15.) Hamms Verflechtung in resistenten Milieus während der NS-Zeit

Sein Passauer Nachlass legt nahe, dass Eduard Hamms Widerständigkeit gegen den Nationalsozialismus und seine Verflechtung in verschiedene resistente Kreise und Milieus als facettenreicher und vielschichtiger zu bewerten sein wird als in der bisherigen Forschung angenommen.


Da sind freilich zunächst seine liberalen Quellen der Resistenz, die bereits in der Frühphase der Entwicklung des Nationalsozialismus im München der frühen 1920er-Jahre ansetzen. Diese ,Traditionslinie‘ von Eduard Hamms NS-Gegnerschaft setzt sich, ebenfalls noch vor 1933, in seiner Leitungsposition beim DIHT fort. Dort geknüpfte Verbindungen reichen dann bis weit in die NS-Zeit hinein: In Kontakt und Freundschaft mit den ihrer jüdischen Herkunft wegen drangsalierten Bankiers Paul von Mendelssohn-Bartholdy (1875–1934) und Max M. Warburg (1867–1946) übernimmt Hamm 1934 den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitz der Deutschen Waren-Treuhand (DWTH) AG in Hamburg. Vorsitzender des Aufsichtsrates der DWTH AG wird der Jurist Wilhelm Kiesselbach (1867–1960), ein entschiedener Gegner des NS-Regimes wie Hamm, der 1933 als Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts entlassen wird. Hamm und Kiesselbach kennen sich seit Hamms Wirken als Reichswirtschaftsminister, denn Kiesselbach ist zu jener Zeit deutscher Vertreter (Commissioner) bei den 1921 vereinbarten Mixed Claims Conferences der USA und des Deutschen Reiches gewesen – gemeinsam mit dem Juristen und Diplomaten Karl von Lewinski (1873–1951), der in den 1930er-Jahren gemeinsam mit Helmuth James von Moltke in Berlin eine Rechtsanwaltskanzlei betrieb und mit Otto Kiep (1886–1944, Onkel von Walther Leisler Kiep), Mitglied des Solf-Kreises, der am 1. Juli 1944 zum Tode verurteilt und am 26. August 1944 ermordet werden wird.

 

 

In der Forschung bekannter ist die Zugehörigkeit Eduard Hamms zum so genannten „Sperr-Kreis“ um den vormaligen Gesandten des Freistaates Bayern beim Deutschen Reich, den gelernten Militär Franz Sperr (1878–1945). Sperr, Eduard Hamm und der frühere Reichswehrminister Otto Geßler (1920–1928) sind die zentralen Akteure dieses Widerstandskreises mit Verbindungen zum Kreisauer Kreis und den Männern und Frauen des 20. Juli 1944, den Manuel Limbach in seiner 2019 erschienenen Monographie eingehend untersucht und dargestellt hat. Entsprechend der – zumal was Schriftlichkeit angeht – konspirativen Organisationsweise des Widerstands verwundert es nicht, dass im Passauer Nachlass Eduard Hamms dessen Verflechtung im Sperr-Kreis kaum dokumentiert ist. Dem ist allenfalls indirekt so, etwa in Form des Briefwechsels zwischen Hamm und Geßler oder Unterlagen zu Hamms juristischer Tätigkeit für die Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft 1944. Im Umfeld der heutigen Munich Re AG bot sich Männern wie Hamm oder Sperr, die 1933 ihre öffentlichen oder halböffentlichen Ämter und Funktionen niederlegen bzw. vom Regime aus diesen entfernt werden, eine Option für privatwirtschaftliche Berufstätigkeit.

 

 

Eduard Hamms Verflechtung in resistenten Kreisen während der NS-Zeit wohnen aber zugleich auch Aspekte inne, die für einen Wirtschaftspolitiker, der in der Historiographie als „liberaler Bürger“ oder, angesichts seiner Zugehörigkeit zur als „linksliberal“ geltenden DDP in der Weimarer Republik zunächst überraschen mögen. Auch in einer bemerkenswerten weltanschaulichen Selbstverortung aus dem Mai 1944 stellt Eduard Hamm fest, dass der religiösen Prägung, die er vor allem an den beiden von ihm besuchten Benediktinergymnasien in Metten und St. Stephan in Augsburg vermittelt bekommen hat, „leider wohl zu wenig in geistig hochstehenden Theologen in späteren Jahren begegnet“ sei. Im Zeichen der gemeinsamen Gegnerschaft gegen die NS-Diktatur wird für den vormaligen Minister und Wirtschaftsfunktionär die Verbindung zu kirchlichen Akteuren sowie, auf einer noch grundsätzlicheren Ebene, seine eigene christliche Religiosität und sein Glaube (wieder) von zentraler Bedeutung.


Am Humanistischen Gymnasium bei St. Stephan in Augsburg nimmt Eduard Hamm im Juli 1938 und im Juli 1944 an den Feierlichkeiten zum 40. bzw. 45. Jahrestag seines Gymnasialabsolutoriums in herausgehobener Rolle teil. Der so genannte „Klostersturm“ des NS-Regimes (1940–1942) liegt da zwei Jahre zurück. „In dem Feindbild, das die katholische Kirche für das Regime darstellte, nahmen die Klöster einen zentralen Platz ein.“ Speziell die Bekämpfung von geistlichen Orden, die Schulen betreiben – wie es der Benediktinerorden in Bayern mit seinen Gymnasien auf einem hohen Niveau tut – „gehörte […] von Anfang an zu den zentralen Zielen der NS-Kirchenpolitik“ (Mertens 2022). Abt Placidus Glogger (1874–1941), welcher von 1915 bis 1941 der Benediktinerabtei St. Stephan vorsteht, befindet sich in dieser Auseinandersetzung in prononcierter Stellung, da er 1924–1936 und 1939–1941 – also während des „Klostersturm“ – auch als Präses der Bayerischen Benediktinerkongregation amtiert. Glogger, der zur gleichen Zeit wie Eduard Hamm an der LMU München studiert hat, gilt als „entschiedener Gegner“ des Nationalsozialismus und hat 1937 Schulverbot erhalten (vgl. Rolle 1998). Die der Abtei St. Stephan neben dem Gymnasium und dem Internat angegliederte Philosophische Hochschule – ein Unikum in der damaligen akademischen Landschaft Deutschlands und Bayerns – wird im September 1937 geschlossen (vgl. Baldus 1965, S. 77, Anm. 505), während das Regime an den rechtlich gleichrangigen Philosophisch-Theologischen Hochschulen seit der „Machtergreifung“ versucht, Lehre und Studierendenschaft gleichzuschalten.

 

 

1938 hält Eduard Hamm die Festansprache zum 40. Jubiläum des Gymnasialabsolutoriums bei St. Stephan in Augsburg. Von der 45-Jahr-Feier am 29. Juli 1943, bei der auch die letzte erhaltene Fotografie Hamms entsteht, ist in seinem Passauer Nachlass eine außerordentliche Quelle der Resistenz Hamms erhalten. Der Reichswirtschaftsminister a. D. hat in lateinischer Sprache ein 14-strophiges Gedicht verfasst, dessen Tenor es in sich hat. Die Dichtung beginnt in den beiden ersten Strophen scheinbar harmlos mit einer wörtlichen Übernahme aus dem im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Schüler- und Studentenlied „Gaudeamus igitur“. Auch in der Folge nehmen Eduard Hamms lateinische Verse in Wortwahl und Form Anleihen an diesem literarischen Vorbild; was Hamm aber inhaltlicher vermittelt, ist nicht weniger als offen ausgesprochene Resistenz gegen die herrschenden Verhältnisse in Deutschland (im Folgenden in der Übersetzung von Markus Gerstmeier):

 

„Nun ersehnen Ruhe wir.

Ist dieses Jahrhundert ruhig?

An einem schwerem Geschick tragen wir gerade.

Ein noch schwereres – möge es uns erspart bleiben! – erwarten wir,

und trotzdem kommt immer ein neuer Tag.

 

Es lebe unsere Kameradschaft!

Trotz wiederholt vieler Verwüstungen

sind wir nicht aufgebraucht im Dienen,

von immer wachsendem Geiste.

Und kein Tag ist vergebens! [...]

 

 

Von hochgradig dankbarer Erinnerung

erfüllt stehe ich (hier) (rück)blickend

auf christlichen Glauben

und klassische Humanität.

Über die Wahnsinnigen lache ich. [...]

 

Unser Glaube sei uns Gefährte

bis zum letzten Tage.

Glaube an Gott, Treue gegenüber Vätern,

Vaterland und Brüdern.

Es lebe unser Glaube!

 

Nieder mit den Vorantreibern

des banausischen Wahns!

Nieder mit St. Stephans,

der Sitten, des Guten und Humanen

rohen Lästerern. […]

 

Und es lebe Deutschland,

die verwundete Mutter,

das Vaterland auch der Bayern,

das geliebte Augsburg,

das nun so beunruhigt ist.

 

 

Vor dem Hintergrund seiner Biographie ist es nicht überraschend, dass Eduard Hamms christliche Motivation für seine Resistenz gegen den Nationalsozialismus – anders als seine Verflechtung mit dem konservativen Benediktinerorden auf den ersten Blick erwarten lässt – nicht etwa in konfessionalistischer Weise auf römisch-katholische Kontexte beschränkt bleibt, sondern vielmehr dezidiert ökumenisch ausgerichtet ist. Die inter- und transkonfessionelle Prägung Hamms mag – und auch hier zeigt sich wieder „das ganz Andere“ an der Geschichte – am Gymnasium bei St. Stephan sogar seinen Anfang genommen haben. Denn die Schule befindet sich in Augsburg, der Stadt des Religionsfriedens und der Parität, und ist von König Ludwig I. auch im Sinne eines konfessionellen Ausgleichs zum evangelisch geprägten Gymnasium bei St. Anna gegründet worden. Als Student tritt Eduard Hamm nicht etwa einer katholischen Verbindung bei, auch keiner der typischerweise gegen Katholizismus und Papsttum eingestellten Burschenschaften oder Corps, sondern dem liberalen und überkonfessionellen „Akademischen Gesangverein“. Dort lernt Hamm auch seine spätere Ehefrau kennen – eine Protestantin, welche für die Heirat mit dem Katholiken nicht konvertiert; beider Kinder werden evangelisch erzogen. Als Nürnberger Patriziertochter freilich ist Maria Hamm, geb. v. Merz, in einer seit der frühen Neuzeit traditionell „philippistischen“, also irenischen, konservativen Form des lutherischen Protestantismus mit vielen „katholischen Überlieferungen“ (Ernst Walter Zeeden) aufgewachsen. (Allein ihr Vorname ist ja für eine zeitgenössische Protestantin eher ungewöhnlich.)

 

Über die Familie v. Merz ist Eduard Hamm mit einer prominenten Theologendynastie des deutschen Protestantismus verschwägert. Die Großmutter mütterlicherseits des Kirchenhistorikers Walter von Loewenich (1903–1992) ist eine geborene v. Merz gewesen (vgl. Hager 2016, S. 18). Dessen Vater Clemens von Loewenich (1860–1936) amtiert, wie der Schwiegervater Eduard Hamms, als Senatspräsident am Oberlandesgericht Nürnberg. Nach seinem Studium der Philosophie und Evangelischen Theologie an den Universität Erlangen, Tübingen, Göttingen und Münster habilitiert sich Walther von Loewenich 1931; die Berufung auf einen Lehrstuhl bleibt ihm während der NS-Zeit verwehrt. Im Herbst 1945 wird die Universität Erlangen ein persönliches Ordinariat für ihn einrichten, 1956/57 wird Walther von Loewenich als Rektor der Erlanger Universität amtieren. v. Loewenich heiratet die Schwester des späteren „Startheologen“ des bundesrepublikanischen Protestantismus, Helmut Thielicke (1908–1986, 1936 Professur an der Universität Heidelberg, von der ihn das NS-Regime aber 1940 absetzt; 1945 Lehrstuhl an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, 1951 Rektor der Universität Tübingen, 1954 Ordinarius an der Universität Hamburg und Prediger in St. Michaelis in Hamburg).

 

 

Im Passauer Stadtarchiv finden sich aus der NS-Zeit zwei bemerkenswerte Briefe Eduard Hamms an Walther von Loewenich – einer aus dem November 1938, ein zweiter aus dem Mai 1944. In letzterem stellt Hamm zunächst Überlegungen aus der Lektüre von Schriften vor allem Helmut Thielickes an und gibt schließlich eine sehr grundsätzliche Stellungnahme zur christlichen Prägung seiner Weltanschauung und seiner auch diesbezüglich motivierten Resistenz gegen den Nationalsozialismus ab.

 

So stellt Hamm fest, es seien „ja wirklich nicht Erdbeben u[nd] Vulkanausbrüche als das Schli[mm]ste zu empfinden, sondern die Greuel, die von Menschen selbst ausgehen, u[nd] zwar nicht von unentwickelten, ,wildem Zustande nahen Menschen, sondern |von zivilisierten[,] bewußt grausamen Menschen, die darin Rechte eines Übermenschentums sehen, das über den einfachen[,] nicht zu Gewalt u[nd] Größe berufenen Menschen anderer Prägung u. Auffassung hinweggehen darf u[nd] muß. Aber woher kommt diese entsetzliche Greuelfähigkeit des Menschen? Dazu wird gesagt, das ungeheure Maß der möglichen Entmenschung u[nd] Vertierung sei nur durch die Höhe des Sturzes zu erklären.“ (S. 3–4)

 

„Die Kriegsgegenwart (nicht erst seit 39 oder 41) hat einfache Linien u[nd] Fronten. Sie werden, wie viele Vereinfachungen u. Zusammendrängungen im polit[ischen] u[nd] wirtschaftlichen Leben[,] den Ausnahmezustand nicht allzu lang überleben. Die zurückgedrängte suchende u[nd] forschende Vernunft wird, hoffentlich, nicht wieder zur Überheblichkeit des 19. Jahrhunderts zurückkehren, sie wird sich ihrer Grenzen bewußt bleiben müssen, aber sie wird auch die Grenzen des Wahrheitsgehalts überkommener kirchlicher Lehren wieder schärfer ins Auge fassen als in einer Gegenwart, in der kritische Menschen, bes[onders] solche, denen neben der Vernunft auch Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen eigen ist, Überhebung u[nd] Maßlosigkeit gerade im Gott-Mensch-Verhältnis mehr auf anderen Seiten als bei den Kirchen sehen u[nd] so zu diesen u[nd] in sie geführt werden.“ (S. 6)

 

Eduard Hamms Überlegungen zu Religion und Glaube gipfeln nicht nur in einer ökumenischen, weltoffenen Perspektive für die evangelische und die römisch-katholische Kirche; Hamm konterkariert auch offensiv den Herrschaftsanspruch und die Heilversprechungen der NS-Ideologie: „Mein Anliegen, u[nd] vielleicht nicht nur meines, ist vor allem ein Christentum u[nd] Kirchentum, das die Tore für alle offen hält, die im Anschluß an Christus den Glauben an Gott u[nd] die von ihm den Menschen gegebene Sendung wachhalten u[nd] für den u[nd] die Menschen fruchtbar machen wollen – ein Christentum, das in Gott den Schöpfer der Welt auch im modernen Weltbild sieht u[nd] den Schöpfer des Menschen, so wie er nun einmal von Schöpfungs wegen sündenfähig u[nd] individuell sündenfällig ist, und in Christus – ohne gewaltsame Wegdeutung geschichtlicher (z. B. eschatologischer) Bedingtheiten seinen großen von Gott gesandten Führer u[nd] Lehrer erkennt – ein Christentum, das so seine Aufgabe vor allem darin findet, die Menschen menschlicher zu machen u[nd] die von Gott zugelassenen u[nd] auch Schuldlosen auferlegten Leiden u[nd] Greuel zu mildern, in der Hoffnung, ihren Sinn einmal in einer jetzt schwer zu denkenden Versöhnung mit seiner Gerechtigkeit u[nd] Barmherzigkeit zu finden.“ (S. 7–8)

 

 

Der Versuch einer Verortung Eduard Hamms in der Zivilgesellschaft der Weimarer Republik sowie in resistenten Milieus während der NS-Diktatur wäre unvollständig ohne einen Blick auf seine Rolle als Familienvater. Dass er auch von Ferne, in äußerst umfangreichen, im Passauer Nachlass erhaltenen Briefwechseln mit seiner Frau und den Kindern selbst, Anteil an der Erziehung und Ausbildung seiner beiden Töchter und der Pflege seines infolge einer schweren Kinderkrankheit geistig eingeschränkten Sohnes Hans, der 1940 verstirbt, nimmt, mag durchaus noch den klassisch-romantischen Vorstellungen deutscher Bildungsbürger des „langen 19. Jahrhunderts“ entsprechen. Der Werdegang, den Hamm seinen Töchtern Gertrud und Fride eröffnet, kann indes als fortschrittlich im Sinne eines demokratischen und emanzipatorischen Gesellschaftsmodells betrachtet werden. Beide Töchter legen das Abitur ab. Während Fride, weil sie eher praktisch orientiert ist, eine landwirtschaftliche Ausbildung absolvieren wird, nimmt Gertrud Hamm ein Studium der Neuphilologie auf, das sie an die Universitäten Bonn, Berlin, Paris und München führt und das sie 1934/35 an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Ersten Staatsexamen abschließt. Nach dem Referendariat am Städtischen Luisengymnasium München – damals noch ein reines Mädchengymnasium – wird sie, unterbrochen von einer einjährigen Tätigkeit am Evangelischen Landerziehungsheim Schloss Wieblingen in Heidelberg, hier auch Studienassessorin. 1938 wird sie von der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Dissertation über „Das altfranzösische Gedicht zu Mariae Himmelfahrt“ promoviert.

 

Das Studium, die Berufstätigkeit als Gymnasiallehrerin, die Promotion, sodann die Schwerpunktsetzung auf Romanistik, der Auslandsaufenthalt in Frankreich, der gerade von der deutschen Rechten verhassten Siegermacht des Ersten Weltkrieges, charakterisieren auch Gertrud Hamm und mit ihr ihren Vater, der ihren Werdegang stets mit großem Interesse und Wohlwollen begleitet, als resistent gegen das NS-Regime und dessen Welt- und Frauenbild. Dies gilt des Weiteren für zwei wesentliche prosopographische Verbindungen Gertrud Hamms: Die evangelische Privatschule in Heidelberg-Wieblingen, an der Gertrud Hamm von Ostern 1936 bis Ostern 1937 unterrichtet, ist 1927 von der Reformpädagogin und NS-Gegnerin Elisabeth von Thadden (1890–1944) als Mädchenschule mit Internat gegründet worden. v. Thadden hatte sich hierfür nicht nur an der 1920 eingerichteten Schule Schloss Salem orientiert, wo sie zeitweise als Lehrerin tätig gewesen ist, sondern auch an der Frauenbewegung – sie war an der „Sozialen Frauenschule“ der liberalen Sozialreformerin Alice Salomon (1872–1948) in Berlin ausgebildet worden. Schülerinnen des Evangelischen Landerziehungsheims Schloss Wieblingen sind zur gleichen Zeit u. a. Lonny von Schleicher (1919–2014), Stieftochter des vormaligen Reichskanzlers Kurt von Schleicher, der am 30. Juni 1934 zusammen mit ihrer Mutter beim „Röhm-Putsch“ ermordet worden ist, und Maria von Wedemeyer (1924–1977), die sich Anfang 1943, nur kurz vor dessen Verhaftung, mit Dietrich Bonhoeffer verloben wird. 1941 wird das Evangelischen Landerziehungsheim Schloss Wieblingen zwangsweise verstaatlicht.

 

Elisabeth von Thadden steht nicht nur in der resistenten Bekennenden Kirche und der ökumenisch orientierten Una Sancta nahe; im so genannten Solf-Kreis leistet sie auch aktiven Widerstand. Nachdem ein eingeschleuster Spitzel den Solf-Kreis enttarnt, wird auch Elisabeth von Thadden verhaftet, u. a. im Konzentrationslager Ravensbrück interniert, bis der Volksgerichtshof unter Roland Freisler am 1. Juli 1944 das Todesurteil über sie fällt – zugleich mit dem Todesurteil über Otto Kiep, mit dem Eduard Hamm vermittels seiner Tätigkeit bei der DWTH AG verflochten ist –, das am 8. September 1944 in Berlin-Plötzensee vollstreckt wird. Eduard Hamm befindet sich zu diesem Zeitpunkt seit sechs Tagen in Gestapo-Haft.

 

Gertrud Hamms Doktorvater an der LMU München ist Geheimrat Karl Vossler (1872–1949), ein bedeutender Romanist und Literaturhistoriker, wie Eduard Hamm ein Geistesaristokrat und zugleich ein Befürworter der Weimarer Republik sowie bereits von den frühen 1920er-Jahren an ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Vossler, seit 1911 Lehrstuhlinhaber für romanische Philologie an der LMU München, pflegt einen intensiven Briefwechsel mit dem liberalen italienischen Gelehrten und Faschismusgegner Benedetto Croce (1866–1952) und hat sich bereits in den 1920er-Jahren für bedrängte jüdische Kollegen eingesetzt; auch ist er der akademische Lehrer Victor Klemperers (1881–1960), der uns mit seinen Tagebüchern eine wichtige Quelle der sukzessive zunehmenden Verfolgung der jüdischen Bevölkerung durch die NS-Diktatur hinterlassen wird. 1937, im Jahr vor Gertrud Hamms Promotion, wird Karl Vossler vom NS-Regime zwangsemeritiert. Nach der Wiedereröffnung der LMU München wird er – nachdem er bereits 1926/27 das Amt des Rektors bekleidet hatte – von Anfang März bis Ende August 1946 als deren erster Nachkriegsrektor fungieren. Sein langjähriger Nachfolger als Rektor der LMU (1946–1953) wird der soeben neu berufene Lehrstuhlinhaber für Orthopädie Georg Hohmann (1880–1970) – 1945 zunächst erster Nachkriegsrektor der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main –, ein guter alter Freund (vgl. Hardtwig 2018, S. 59) Eduard Hamms, denn Hohmann ist von Ende 1918 bis Ende 1920 erster Vorsitzender der neu gegründeten DDP in Bayern gewesen und mithin auch Fraktionskollege Hamms im Bayerischen Landtag. Karl Vossler und Georg Hohmann initiieren als Rektoren der LMU die dortige Erinnerungskultur zu Ehren der Widerstandskämpfer der „Weißen Rose“ (vgl. Georg Hohmann, Zur Einführung, in: Vossler 1946, S. 5–7). Wenige Wochen, bevor Hohmann im Oktober 1944 sein Amt als Rektor der LMU München antritt, ist er es, der am 21. August 1946 auf der katholischen Beistzung der Urne mit Eduard Hamms Asche auf dem Münchener Waldfriedhof die „Rede zum Gedächtnis“ an Hamm hält.