II.) Zeithistorischer Rahmen
Eduard Hamm wird am 16. Oktober 1879 in ein ganz anderes Deutschland, in ein ganz anderes Bayern, in ein ganz anderes Passau geboren.
Diese Reminiszenz an Jacques Le Goffs Auffassung von Geschichte, dass eigentlich alles „ganz anders“ gewesen sei, mag hier zunächst trivial erscheinen. Zur Einordnung einer Vita und einer Lebensleistung, wie der spätere liberale Spitzenpolitiker und NS-Gegner sie durchlaufen wird und vorzuweisen hat, scheint es sehr wohl sinnvoll zu sein, sich die Gegensätzlichkeit von Vergangenheit und Gegenwart, aber auch die Gegensätze in der Geschichte selbst ins Gedächtnis zu rufen, weil diese auch Hamms Leben prägten und er in eine so herausgehobene gesellschaftliche und politische Position gelangen würde, die Grundproblematik von Gegensätzen und Gemeinsamem in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts selbst mitzuprägen.
Beginnen wir mit dem „ganz anderen Passau“. Hamms Geburtsstadt ist nur zwei Generationen zuvor eine der tiefsten Zäsuren in ihrer langen Geschichte widerfahren. Nach hunderten Jahren als Mittelpunkt der zuvor größten Diözese des Heiligen Römischen Reiches und als glänzende Haupt- und Residenzstadt eines Hochstifts mit eigener Staatlichkeit ist Passau zunächst durch die josephinischen Reformen, den Reichsdeputationshauptschluss und letztlich mit der Einverleibung in das Königreich Bayern 1805 „vom Zentrum in die Peripherie“ (Markus Eberhardt) gerückt worden.
Verglichen mit den Epochen zuvor und danach fehlt der Stadt Passau – abgesehen von dem ererbten Kulturgut und der einzigartigen naturräumlichen Lage – im „langen 19. Jahrhundert“ im Wesentlichen, (bis auf erste Ansätze dazu) was sie heute so vertraut und lebenswert macht: die Universität, die wirtschaftliche – auch industrielle – Prosperität, die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt.
Bayern ist 1879 insofern „ganz anders“ als der frühneuzeitliche Stände- und Konfessionsstaat des Kurfürstentums und als der heutige Freistaat, als im straff durchorganisierten Zentralstaat des von Männern wie Montgelas geprägten neuen Königreichs etwa der Gegensatz zwischen der Hauptstadt München mit ihrer dortigen oder dorthin orientierten Beamtenelite einerseits und dem weiten Land andererseits, zumal der Peripherie – Passau war nun die östlichste Stadt des Landes – besonders groß war. Mit der kleindeutschen Lösung, der Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 keine neun Jahre vor Eduard Hamms Geburt, ist Passau noch weiter in die Peripherie gerückt; das angrenzende Österreich ist nun definitiv aus Deutschland „draußen“, mit dem Passau kulturell doch so viel mehr teilt als mit der neuen vorherrschenden Macht in deutschen Landen, Preußen. Weder für die relative Offenheit des alten Europa noch jene des neu geeinten Europa der Zweiten Nachkriegszeit, die für Passau von heute so entscheidender Bedeutung ist, wird im Zeitalter des Nationalismus eine allzu gewogene Haltung gegeben sein (mit Ausnahme einer quantitativ schmalen Minderheit, zu der, wenigstens nach 1918, auch Eduard Hamm gehören wird.)
Die Führungsschichten des neuen Deutschen Reiches, vor allem auch des Königreichs Bayern – beide zwar konstitutionelle, aber nur in überschaubaren Ansätzen demokratische Staatswesen – sind nicht (mehr) konservativ bzw. gar klerikal, so, wie das zeitgenössische Passau 1879 noch immer geprägt ist. Anders als die Mehrheit der Gesamtbevölkerung ist die Elite überwiegend, in der einen oder anderen Form, liberal. Kein Zufall, dass die Statue des ersten bayerischen Königs Maximilian I. Joseph vor dem Passauer Dom dem Gotteshaus den Rücken zukehrt. Die Untertanen, für die sich noch lange danach die „Säkularisation als Katastrophe“ (Anton Schindling) erweist – kulturell wie ökonomisch –, fristen im „langen 19. Jahrhundert“ in weiten Teilen ein ganz anderes Leben als die Oberschicht, zu der auch Hamm gehören wird. – Man lese, als Kontrastprogramm zum Bild, das der Nachlass Eduard Hamms zeichnet, nach bei der mit Eduard Hamm fast gleichaltrigen Lena Christ (1881–1920, vor allem in deren „Erinnerungen einer Überflüssigen“, 1912). Zumal Deutschland muss für diese Zeit weniger trotz als vielmehr auch wegen des technischen Fortschritts als weithin armes Land bezeichnet werden, aus dem Menschen millionenfach auswandern. Insbesondere zwischen 1850 und 1890 stellen Deutsche den Hauptanteil der europäischen Auswanderer. Ein Sachverhalt, der das nationale „Hurrah“ und den Pomp des Kaiserreichs kontrastiert. Just im Jahr nach Eduard Hamms Geburt, also 1880, erreicht die Massenauswanderung aus Deutschland ihren Höhepunkt. Die noch weit ins 20. Jahrhunderts schwelende und kaum zufriedenstellend geklärte „soziale Frage“ wird auch in Eduard Hamms politischem Leben eine zentrale Rolle einnehmen, neben und mit der Auseinandersetzung mit den extremen Ereignissen und Regimen zu seinen Lebzeiten.