Fazit: Eduard Hamms Bedeutung für die deutsche Geschichte und Gegenwart
Eduard Hamms Bedeutung für die deutsche Geschichte und Gegenwart kann unter vier Begriffen subsumiert werden; sie lauten:
Humanitität und Einigkeit und Recht und Freiheit. – Diese vier Begriffe und geistesgeschichtlichen Konzepte ziehen sich geradezu wie Leitmotive durch Hamms Denken und Handeln als Politiker, Bürger, Mensch.
Einigkeit deshalb, weil Hamms Denken und Wirken als politischer Mensch und als (Bildungs-)Bürger davon geprägt waren, die Gegensätze in der deutschen Geschichte zu überbrücken und zu überwinden. Die Gegensätze gerade in der deutschen Geschichte waren oft langfristig gewachsen – Leopold von Ranke etwa setzt den „Anfang der Spaltung in der Nation“ mit dem Beginn der Reformation gleich (Ranke 1839, S. 145–181, bes. 150–156); im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm), in das Hamm als Mensch und politisch Handelnder hineingeworfen war, spitzen sie sich vielfach noch deutlich zu. Mehr noch: Die Krisen, Kriege und Katastrophen, die in Hamms Lebenszeit fielen, können ohne einen Blick auf diese gesellschaftlichen Gegensätze und Spaltungen ja letztlich nicht hinreichend verstanden werden.
Hamm indes versuchte als Zeitgenosse und als politisch Handelnder anstelle der Gegensätze das Gemeinsame, Vermittelnde, Verbindende zu akzentuieren. So suchte er als (links-)liberaler Wirtschaftspolitiker und später als Verbandsfunktionär einen Ausgleich der Interessen des (Groß-)Kapitals einerseits und derjenigen der breiten Bevölkerung andererseits. Dieses Ansinnen fasste er als Reichswirtschaftsminister und Abgeordneter in einer Rede vor dem Reichstag im Frühjahr 1924 folgendermaßen zusammen:
„…Man wird der Reichsregierung nicht vorwerfen können, daß sie nicht unter großen staatsrechtlich bedingten Schwierigkeiten das ihrige auch für die Wirtschaft zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getan hat. Andererseits muss aber auch von der Wirtschaft selbst jetzt in besonderem Maße alles zur Erhaltung und Förderung des staatlichen Friedens geschehen, eines Friedens, der letzten Endes ja doch nur als ein freiwilliger sozialer Friede der Stände untereinander bestehen und Kraft haben kann.[…] Aber die Sozialpolitik als die politische Arbeit an einem guten staatsfördernden Verhältnis der einzelnen Stände untereinander ist etwas ganz anderes, und konnte und kann nie weniger entbehrt werden als gerade in dieser Zeit, wo wir an materiellem Wohlbehagen breitesten Schichten der Bevölkerung bei allem heißen Bemühen so unendlich wenig bieten können.“ (Verhandlungen des Reichstags, 1920/24,18 RT. – 407. Sitzung, Freitag, den 7. März 1924, S. 12682 f.; Hervorhebung in der Originalquelle)
Das Verbindende, Ausgleichende, Einigende betraf in Eduard Hamms Denken und Handeln freilich noch weitere Gegensatzpaare der deutschen Geschichte und der damaligen – wie auch in Teilen wieder der heutigen – Gegenwart:
Bayern – Reich / Preußen,
Deutschland – Ausland,
Bürgertum – Adel,
die verschiedenen Konfessionen,
Individuum und Gesellschaft,
Männer und Frauen, wie sich etwa in Form seiner Ehe und der Förderung der Emanzipation seiner Töchter zeigt,
die Verbindung von Industrialisierungs- und Technikbegeisterung mit der Zuneigung zu Natur und Umwelt. So sehr Wirtschaft und Industrie in Hamms vita actica über Jahrzehnte im Fokus standen – er war gleichzeitig stets ausgesprochen geistig, ja geisteswissenschaftlich ausgerichtet. Ein Wirtschaftsminister, der Gedichte schreibt, und das auch noch auf Latein – was für ein Unterschied etwa zu Hamms badischem Parteikollegen und Nachfolger als Reichswirtschaftsminister, dem nur zwei Monate jüngeren Hermann Dietrich (1879–1954), der 1925 in einem Artikel über „Wege deutscher Wirtschaftspolitik“ im „Berliner Tageblatt“ öffentlich kundtat, im gegenwärtigen „Zeitalter der Technik“ sei es „unzeitgemäß“, sich mit „Dramen, Lyrik oder Philosophie“ zu beschäftigen (zit. nach Meier 2021, S. 229). Charakteristisch ist dabei (auch) für Eduard Hamm ein lösungsorientierter Pragmatismus – nicht Ideologie, sei sie rechts, links, religiös oder materialistisch motiviert; allerdings eben ein Pragmatismus, dem zugleich hochgradige Bildung, Kultiviertheit und Intellektualität beiseitestehen – beide Aspekte sind bei Hamm als wesentliche „Quellen der Resistenz“ zu identifizieren. Das Ausgleichende, Verbindende, Mäßigende sind die logische Konsequenz, und die Bereitschaft, dafür auch in der Tat einzustehen.
Recht
Wie im so genannten „Kaltenbrunner-Bericht“ vom 15. September 1944 zu lesen ist, gab Hamm der Gestapo während seiner Verhöre im Berliner Gefängnis zu verstehen, er habe vor 1933 die außen- und wirtschaftspolitischen Ziele des Nationalsozialismus abgelehnt, nach 1933 aber „nur die nationalsozialistischen Rechtsauffassungen beanstandet.“ Gemäß Wolfgang Hardtwig und Manuel Limbach klinge „[d]iese Aussage [...] unscheinbar, bedeutet aber bei näherem Hinsehen im lebensbedrohlichen Moment eine unmissverständliche Absage an das Regime im entscheidenden Punkt.“ (Hardtwig 2018, S. 427) Hiermit hat Eduard Hamm sich nicht etwa selbst stilisiert; er hat, wie die „Quellen der Resistenz“ belegen, schlicht die Wahrheit gesagt. Denn ,Recht‘ ist bereits die zentrale Kategorie für das Eintreten des in der Monarchie sozialisierten Hamm für die jungen Demokratien im Freistaat Bayern und der Weimarer Republik. Hamm am 50. Jahrestag der Reichsgründung am 18. Januar 1921 in Augsburg als Redner der DDP: „Treue der Verfassung von Weimar, die für die Demokraten Überwindung der Revolution bedeutet, da sie an die Stelle des Chaos das Recht gesetzt hat. […] Nach der Zertrümmerung des Reiches Bismarcks tragen wir Ehrfurcht vor dem jetzigen Staat, weil das Volk ihn geschaffen hat. Im Gedanken an das Versailles von 1871 soll uns die Hoffnung aufrecht erhalten bleiben, dass das Versailles von 1919 beseitigt werde. Unerschütterlich sei uns der Glaube an Deutschlands Zukunft. Nicht Freiheit vom Reich, sondern Freiheit im Staat sei der Wahlspruch.“
Als Staatssekretär in der Reichskanzlei berichtet Hamm dem Reichskanzler Cuno am 15. April 1923 über die angespannte Situation in Bayern, welches er gerade nicht als „Ordnungszelle“ im rechtsstaatlichen Sinne ansieht. Das Problem seien „die aktiven Kampfvereinigungen: Bund Oberland, Reichsflagge, Blücher, Einwohnerwehren, Sturmabteilungen der NSDAP. Sie halten gemeinsame Felddienstübungen ab und erklären ihre Bereitschaft zur Abwehr [...]. Sie sind größtenteils schwer bewaffnet. In Sachsen und Thüringen existieren proletarische Abwehrorganisationen gegen faschistische Unterdrückungsabsichten. [...] In München ist die Zentrale der NSDAP. Sie soll dort 40.000 Mitglieder haben. Der Einfluß des Führers reicht weit in die gebildeten Kreise, des Offizierskorps und der Wirtschaft. Die Partei müßte nach dem Auflösungsbeschluss des Volksgerichtshofs aufgelöst werden. Die Regierung wird dies nicht tun. [...] Der Schutz der Rechtsordnung ist Sache des Staates, nicht der Sturmabteilungen und Proletarischen Vereinigungen.“
„Rechtssicherheit“ ist dann auch die zentrale Forderung, die Eduard Hamm als DIHT-Spitzenfunktionär am 1. Februar 1933 in einer Denkschrift an den zwei Tage zuvor neu ernannten Reichskanzler Hitler stellt (Hamm 1933, S. 17). Bekanntlich sollte es ganz anders kommen: Das NS-Regime setzte seine „Machtergreifung“ von Beginn an auch und gerade durch den Missbrauch und zugleich die sukzessive Aushölung und Transformation des von der NS-Ideologie fundamental abgelehnten aufgeklärt-modernen Rechtsstaates in einen formal und faktisch systematischen Unrechtsstaat durch. Hierzu dienten Ermächtigungsgesetz, Heimtückegesetz und viele weitere primär ideologisch, völkisch und rassistisch motivierte Sonderstrafrechtsverordnungen, Sondergerichte sowie zahlreiche Repressionsmechanismen parallel und in Überlappung zum (formal weiter-)bestehenden Justizapparat.
Die tiefgreifende Ablehnung und Verachtung dieses Unrechtsstaates und der damit einhergehenden Verhöhnung des positiven und moralischen Rechts liefert nach Wolfgang Hardtwig auch ein seines Erachtens authentisches, plausibles Indiz für die Theorie eines Freitodes Hamms in der Gefangenschaft in Berlin. Er zitiert seine Mutter Gertrud Hardtwig-Hamm: „Nichts hat der Vater so verabscheut wie den sog. Volksgerichtshof und mehrmals, zuletzt im Zusammenhang mit einer möglichen bevorstehenden Verhaftung, hat er die Äußerung getan, dass er sich nicht vor solche Burschen und juristische Ignoranten stellen lassen würde“. Hamm war von Mitverschwörern des Sperr-Kreises, die bei dem Prozess gegen Professor Kurt Huber, Professor an der LMU München und Widerstandskämpfer im Umfeld der Geschwister Scholl, zugegen gewesen waren, über die Verhandlungspraxis des VGH unter Freisler in Kenntnis. Hamm bei einer Bergwanderung kurz vor seiner Verhaftung gegenüber seiner Tochter Fride: Er werde sein Schicksal nicht von „diesen Leuten“ abhängig machen; „das mache ich mit mir und meinem Gott selber aus.“ (Hardtwig 2018, S. 432 f.)
Freiheit
Von daher gesehen wird auch der komplexe, aber in gewissen politischen Kontexten heutzutage leider oft recht unreflektiert und inflationär gebrauchte Begriff ,Freiheit‘ bei Eduard Hamm konkret. Entscheidend ist für ihn das ,,Selbstbestimmungsrecht der freien Persönlichkeit gegen den Druck von oben und gegen den Terror von unten“ (Landesparteitag der DDP im Oktober 1920). Spätestens seit dem Schlüsselerlebnis seiner Tätigkeit bei der Zentral-Einkaufsgesellschaft mbH in Berlin während des Ersten Weltkriegs kämpft Hamm für eine freie Wirtschaft und gegen Zwangswirtschaft, sei letztere kriegsbedingt (bis Mitte 1921), von links (gegen „Sozialisierungs“-Pläne Kurt Eisners) oder von rechts her bedingt (wie im Nationalsozialismus). „Wir wollen die persönliche Unternehmerkraft überall, in Landwirtschaft, Industrie, Handel und im millionenfachen Getriebe der Selbstverantwortlichen der Gewerbe wahren, eine Unternehmerkraft, die im Gewinnstreben ihren sichtbarsten, aber nicht letzten Antrieb hat, sondern um des Werkes willen, als Verkörperung des Persönlichen, wirkt“ (beim Antritt als Bayerischer Handelsminister, 30. Mai 1919). In dieses Bild fügt sich – und dies ist für die deutsche Gegenwart vielleicht eine der interessantesten ,Lehren‘, die sich aus einer Beschäftigung mit Leben und Werk Eduard Hamms in unmittelbar einleuchtender Weise ergeben – sein Eintreten für eine Verwaltungsreform in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren. Hamm selbst verkörperte als bayerischer Ministerialbeamter noch das hehre Ideal einer nach den Reformen der Aufklärung straff organisierten und effizienten „Meritokratie“, nicht „Bürokratie“ des staatlichen Justiz- und Verwaltungsdienstes eines deutschen Landes. Dies verweist letztlich auch auf die Grundbedingung des Hamm’schen Verständnisses von Freiheit, nämlich auf individuelle Leistung und die Übernahme von Verantwortung, auch wenn es schwierig wird. Es gilt, aufrecht zu bleiben und Opferbereitschaft zu zeigen. Im Krisenwinter 1922/23 fuhr Eduard Hamm als Staatssekretär in der Reichskanzlei nicht einmal über Weihnachten nachhause zu seiner Familie nach München. Man vergleiche diese Leistungs- und Verantwortungsbereitschaft mit dem Sachverhalt, dass Mitte August 2021, als die damalige deutsche Botschafterin in Washington, D.C., Dr. Emily Haber, mit ihren dringenden Warnungen vor dem unmittelbar bevorstehenden Fall Kabuls, über den sie von Kontaktleuten in der US-Administration informiert worden war, in der deutschen Bundesregierung niemanden erreichen konnte (vgl. hierzu die investigativen Recherchen und Datenanalysen von Schweppe – Gorbauch – Cesaro-Tadic 2024) – es waren ja Sommerferien!!
Bekanntlich stehen die drei Begriffe Einigkeit und Recht und Freiheit prominent im ersten Vers der dritten Strophe von Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ (1841), das 1952 auf Betreiben von Bundespräsident Theodor Heuss, einem vormals engen politischen und persönlichen Wegbegleiter auch Eduard Hamms, zur Nationalhymne der jungen Bundesrepublik erklärt werden sollte. Die Referenz auf die Hymne der zweiten deutschen Demokratie, die, wenn wir Einigkeit und Recht und Freiheit als Leitmotive bei Eduard Hamm benennen, mitschwingt, ist hierbei auch deshalb sinnvoll, weil Hamm in seinem Denken und Handeln grundsätzlich patriotisch eingestellt war. Patriotisch war Eduard Hamm wohl in allererster Linie in Bezug auf Bayern, aber – integral damit verbunden – eben auf Deutschland. Dies mag ihn auf den ersten Blick für heutige Vertreter der parteipolitischen Orientierung, für die sich Hamm spätestens bei der Novemberrevolution entschied, also dem (Links-)Liberalismus befremdlich, „ganz anders“ erscheinen lassen: Wäre da nicht das vierte Leitmotiv in Eduard Hamms Denken und Handeln, das Einigkeit und Recht und Freiheit nicht nur komplementär ergänzt, sondern Hamms Verständnis dieser drei Begriffe erst zur Gänze verständlich werden lässt: Humanität.
Auch sie ist bei Eduard Hamm zugegebenermaßen zunächst „elitär“ zu verstehen, als „humanitas“ im klassisch-(neu)humanistischen Sinn. Dies ergibt sich aus Hamms lebenslanger Prägung durch das Humanistische Gymnasium und das um die Jahrhundertwende noch dezidiert geisteswissenschaftlich ausgerichtete Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an einer im Glanz des Humboldt’schen Reformideals stehenden deutschen Universität. Das bedeutet aber auch, dass Hamms Verständnis von Einigkeit und Recht und Freiheit sowie die spezifische Art seines Patriotismus von vornherein als vergeistigt, akademisch, intellektuell zu charakterisieren ist.
Gerade weil Eduard Hamms schulischer und akademischer Werdegang so außerordentlich elitär gewesen ist, kann seine Hinwendung zur Republik und Demokratie als besondere (Transfer-)Leistung bezeichnet werden. Auch hier schafft er wieder einen Brückenschlag: denjenigen zwischen reinem Geist und politischer Praxis. Hamm blieb nicht in der persistent vornehmen Welt der Münchner Ministerialmeritokratie, die ja im Wesentlichen auch über die Epochenschwelle von 1918/19 hinweg die Funktionselite Bayerns bleibt; er geht in die aktive (Partei-)Politik, ins Parlament, in die Regierung, und d. h. zur damaligen Zeit: dahin, wo es weh tut. Seinem Freiheitsideal entsprechend steht in Bildung und Arbeitswelt die individuelle Eigenleistung an erster Stelle, zugleich aber, und das ist hier das Humane, verficht Hamm ein Wirtschaftsleben, das „sozial eingehegt“ (Hardtwig 2018, S. 373 und 424) ist. Deswegen traf Sigmar Gabriel bei der feierlichen Benennung der Bibliothek des Bundeswirtschaftsministeriums am 23. September 2014 die zutreffende Feststellung, dass Eduard Hamms Wirtschaftsauffassung Ziele vertreten habe, „die man heute wohl als Soziale Marktwirtschaft bezeichnen könnte“ (Gabriel 2014, S. 6).
Und wirklich nahm Eduard Hamms Denken und Handeln in Vielem den Geist des Grundgesetzes und die Bundesrepublik als positives Gegenbild zu Diktatur und Chaos vorweg. Und deren beider zivilisatorische und kulturelle Leistungen für die deutsche Geschichte bestehen ja auch gerade aus diesen vier Begriffen: Einigkeit, Recht, Freiheit und, viertens, Humanität, letztere gegossen in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (in Form gegossen in Herrenchiemsee, also wenige Kilometer unterhalb von Hamms Refugium Reit im Winkl). Eduard Hamm hätte am Aufbau der Bundesrepublik und des Wiederaufbaus des Freistaates Bayern als „Rechts-, Kultur- und Sozialstaat“, wie dieser in Art. 3 (1) 1 der Verfassung von 1946 genannt wird, das kann man kontrafaktisch sicherlich sagen, noch in herausgehobener Stelle mitwirken können. Man bedenke, dass Konrad Adenauer fast fünf Jahre älter war als Hamm.
Hamms Zeitgenossenschaft in der hochkultivierten und elitären Oberschicht der Kaiserzeit, aber auch immer wieder zu beobachtende Überwindungen und Emanzipationen davon bereits vor 1918, aber insbesondere danach, lässt sein bislang unerforschter Passauer Nachlass als dessen primäre (Vor-)Prägungen für seine spätere, bereits zu Beginn der 1920er-Jahre – also während der frühen Münchner Aufstiegsphase Hitlers – nachweisbare kategorische Ablehnung des Nationalsozialismus und für sein Eintreten für ein freiheitliches, weltoffenes und demokratisches Deutschland erscheinen.
Dass er diesen Schritt gewagt und geschafft hat, ist im bildungshistorischen Sinne auch als Hamms „Individuation“ zu bezeichnen; d. h. er lief oder marschierte nicht einfach nur mit, ließ sich nicht von ihm eigentlich Zuwiderem äußerlich vereinnahmen, sondern schuf etwas Eigenes und blieb diesem treu. Auf diese Weise ist Eduard Hamm ganz er selbst geworden, er hat im Verständnis der klassischen antiken Geistestradition und deren neuhumanistischer Rezeption und Adaption, die für Hamm als Absolventen des Humanistischen Gymnasiums und als Maximer – neben und mit der christlichen Prägung – den wesentlichen geistigen Bezugsrahmen bildeten, ein gelungenes Leben geführt. Eduard Hamm „wurde verständig der, der er ist“ im Sinne von Pindars delphischer Aufforderung Γένοι̕ οἷος ἐσσὶ μαθών (II. Pythische Ode, v. 72, übers. M.G.), die Hamms Zeitgenosse, der Gräzist und NS-Gegner Werner Jaeger (1888–1961), der um 1930 im Berliner Westen ganz in der Nähe der Hamms wohnte, prominent in seinem Standardwerk ,,Paideia“, dessen erster Band 1933 erschien, in Erinnerung gerufen hat (Jaeger 1973, insb. S. 285). Oder in den Worten von Eduard Hamms langjährigem Weggefährten, des Medizinprofessors und späteren Rektors von Hamms Alma Mater, der Ludwig-Maximilians-Universität München, Georg Hohmann (1880–1979), welcher im Rahmen der Beisetzung von Hamms Asche in München am 21. August 1946 die Gedenkrede sprach: „Mit seinem Leben ist er ein Vorbild für Viele geworden, mit seinem Tode hat er den Lauen und Halben, von denen es in Deutschland so viele gibt, ein Bild der Charakterstärke gezeigt, diesen schwachen Menschen“. Im Gegensatz zu jenen ist Eduard Hamm durch Sozialisation, Individuation und Resistenz – im Rahmen der Zeitläufte und seiner Möglichkeiten – ganz geworden und hat auf diese Weise seinen Zeitgenossen und uns Nachgeborenen ein Beispiel des ,,anderen“, besseren Deutschland gegeben. Hierfür einzutreten, ist das Vermächtnis von Leben und Leistung Eduard Hamms.