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Objekttyp
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Brief
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Objekttitel
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*Eduard Hamm über die Bedeutung des Christentums in Zeiten der „Überhebung u. Maßlosigkeit gerade im Gott-Mensch-Verhältnis mehr auf anderen Seiten als bei den Kirchen“ (Mai 1944)
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Originaltitel
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[Eduard Hamm an Walter von Loewenich, Reit im Winkl, 1944-05-16]
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Objektstatus
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Original
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Interne Signatur
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dhup_hamm_korr_briefe-von-eduard-hamm_an-walter-von-loewenich_1944-05-16
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Digitale Kollektion
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EHOA 2024
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Transkription
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Reit im Winkl, 16.5.1944.
Lieber Walter!
Vor unserer Reise nach Schufen will u. muß ich Dir endlich die
Predigten u. theologischen Schriften zurückgeben, die ich von Dir und
Deiner verehrten Schwiegermutter zu lesen bekommen habe. Es sind
von Deinem Schwager Thielicke
Schuld u. Schicksal, Gedanken eines Christen über das Tragische, 1935,
Jesus Christus am Scheideweg, 1938,
Wo ist Gott? 1940,
Predigt über Johannes 9, 1–3, Sept. 43
“ “ Lukas 7, 36–50
“ “ Matth. 15, 21–28,
Vortrag über Grenzen der Fürbitte,
von Dir Predigt über Jeremias 29, 11 v[om] 9.1.44,
endlich Vortragsreihe v[on] Pf[arrer] Dietz über die Gleichnisse des
Lukasevangeliums.
.
Ich bin Dir u. Deiner verehrten Schwiegermutter sehr
dankbar. Ich habe den Darlegungen Deines Schwagers viel
entnommen. Freilich bleibt mir ein ungelöster Rest;das ka[nn]
nicht anders sein.
In allem geht es um das Verhältnis Gottes zum Menschen
u. zur Welt. Überall wird gepredigt, daß wir nicht Gott
[Seite 2]
unser Denken aufdrängen dürfen u. nicht ihm vorschreiben, was
gerecht u. gut sei.
Das Büchlein über das Tragische schreibt: „Das Geheimnis der
Welt ist die Nichtexistenz ihrer Versöhnung. Das Geheimnis Gottes
ist die Liebe.“ Aber die Welt ist Gottes Schöpfung; auch in ihr ist
Offenbarung. Und daß die unversöhnlichen Widersprüche der Welt in sich
u. zu Gottes Liebe erst eine spätere, vom Menschen durch den Sünden-
fall verursachte Verderbnis seien, ist ein Satz des Kirchenglaubens,
mit dem i[mm]er mehr ehrlich ringende Menschen nichts anfangen
können, was man auch der naiven Legende an Sinndeu-
tungen geben mag. Also geht die Nichtversöhnung der Welt selbst
auf Gott zurück. Und der zweite Satz, daß das Geheimnis Gottes
die Liebe ist, ist Glaube u. Hoffnung jenseits aller verstandes-
mäßigen Beweisbarkeit.
Aus der Schrift: „Jesus Chr[istus] am Scheideweg“ war mir be-
merkenswert, wie stark der Glaube an einen persönlichen
Antichrist mitspricht, der auch sonst wohl neubelebt ist. Apo-
logie halte ich nach wie für ein ernstes Anliegen. Das
credere quia absurdum [Glauben, weil es absurd ist; MG] liegt vielen Menschen, auch solchen
ohne jede Hochmut nicht. Sie betrachten es als Pflicht, auch von
ihrem Verstand Gebrauch zu machen. Daß das ganze Bild von Welt,
[Blatt 2, Seite 3]
Mensch, Zeit, Schöpfung, Makro- und Mikrokosmos sich gegenüber
dem Bild der biblischen Menschen von Grundauf geändert hat,
zwingt zu Nachdenken. Wenn S. 45 an einer (nicht von mir
mit ? versehenen[)] Stelle rationale Schwierigkeiten (Zweifel)
immer als Zeichen angesehen werden, daß etwas viel Näheres[,]
nämlich unsere Gemeinschaft mit Gott, unser Leben vor seinem
Angesicht nicht in Ordnung sei, so scheint mir das an den Satz
zu erinnem, daß Glaubenszweifel nur aus Unsittlichkeit oder
Hochmut stammen können, was m[eines] E[rachtens] eine unzulässige Ver-
allgemeinerung u. Vereinfachung ist. Dabei ist freilich Vorfrage,
was unter „rationalen Schwierigkeiten (Zweifel)“ verstanden
wird, m[it] a[nderen] W[orten] wie wortstreng oder sinnbildlich die Kirchen-
lehre […] genommen [wird] u. was danach überhaupt rationale
Schwierigkeiten in Wesen u. Anwendung bedeuten.
In der Schrift „Wo ist Gott?“ fand ich viel mich Ansprechendes
über das Ziel, das so oft weit über jeden Läuterungssinn
hinausgeht. Dabei sind ja wirklich nicht Erdbeben u. Vulkan-
ausbrüche als das Schli[mm]ste zu empfinden, sondern die
Greuel, die von Menschen selbst ausgehen, u. zwar nicht von
unentwickelten, „wildem“ Zustande nahen Menschen, sondern
[Seite 4]
von zivilisierten[,] bewußt grausamen Menschen, die darin
Rechte eines Übermenschentums sehen, das über den ein-
fachen[,] nicht zu Gewalt u. Größe berufenen Menschen anderer
Prägung u. Auffassung hinweggehen darf u. muß. Aber woher
kommt diese entsetzliche Greuelfähigkeit des Menschen? Dazu
wird gesagt, das ungeheure Maß der möglichen Entmenschung u.
Vertierung sei nur durch die Höhe des Sturzes zu erklären.
Und dazu wird noch darauf hingewiesen, daß Gott duldete,
daß sein eigener Sohn an dieser Welt sterbe. Das führt zu
den Unbegreiflichkeiten, die Hegel in einem Buch (wohl
über das Volkstum?) in der bekannten, bei anderer Absicht
blasphemisch zu neu anderer Weise zusammengedrängt hat.
„Kein Mensch kann das [,]Warum[‘] begreifen. Aber wenn
wir den Jammer u. das Elend der Menschheit sehen,
wollen wir an unsere Brust schlagen. Das ist die Antwort,
keine Patentlösung unseres Verstandes, sondern die
Buße unseres Herzens.“
Einverstanden; aber sollte dieser Jammer der Menschheit nur
durch den Abfall der (?) Menschen von Gott entstanden
sein, nur dadurch, daß die Menschheit Gott durch den
[Note unten auf Seite 4: Buße nur für Sünden der Menschen?]
[Blatt 3, Seite 5]
Sündenfall aus den Händen geglitten ist? Und wie soll dieser
Sündenfall Tod u. Elend der ganzen belebten Welt dieser Erde,
all die Leiden unschuldiger Tiere, all die Grausamkeiten
dazu geschaffener u. bestimmter Tiergeschöpfe verschuldet u.
verursacht haben? Das großartige, aber doch auch grauenvolle Spiel von Werden u.
Vergehen, von Verzehren u. verzehrt werden, von Quälen u.
gequält werden, deutet es nicht auf einen deus
ludens [spielenden Gott, MG]? Wo ist da Barmherzigkeit, Gerechtigkeit? u.
wo der Ausgleich zu suchen?
So kommt mir vor, als sei die Unerforschlichkeit
Gottes noch viel unerforschlicher als selbst Theologen meinen
u. als komme auch alle Gelehrsamkeit, die jetzt vielleicht weniger
der rationalen „Erklärung“ (u. oft Verharmlosung)
unbegreiflicher Fragen, als dem Nachweis u. der Umschreibung ihrer Unerklär-
barkeit gewidmet wird, ihr nicht bei. Dabei scheint
mir manchmal der Ausweg nach der Stelle des ge-
ringeren Widerstands genommen zu werden, nach der
Seite der Armseligkeit des Menschen, der eben nicht hof-
färtig zu enträtseln suchen, sondern „glauben“ solle, wobei dieses
[Seite 6]
Wort[,] wie mir scheint[,] bei evang[elischen] u. kath[olischen] Theologen eine
gewisse Absenkung gegenüber landläufigen Vorstellungen
von einem handfesten wörtlichen für „wahr“ halten, dh. für geschichtlich
geschehene Realität Annahmen erfahren zu haben
scheint. Aber das lassen die Kirchen wohl mit einer
gewissen Absicht im Halbdunklen. Ob es dabei bleiben kann?
Die Kriegsgegenwart (nicht erst seit 39 oder 41)
hat einfache Linien u. Fronten. Sie werden, wie viele
Vereinfachungen u. Zusammendrängungen im polit[ischen] u. wirtschaft-
lichen Leben[,] den Ausnahmezustand nicht allzu lang über-
leben. Die zurückgedrängte suchende u. forschende Vernunft
wird, hoffentlich, nicht wieder zur Überheblichkeit des 19. Jahr-
hunderts zurückkehren, sie wird sich ihrer Grenzen
bewußt bleiben müssen, aber sie wird auch die
Grenzen des Wahrheitsgehalts überkommener kirchlicher Lehren wieder
schärfer ins Auge fassen als in einer Gegenwart, in der kritische
Menschen, bes[onders] solche, denen neben der Vernunft auch Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen eigen ist,
Überhebung u. Maßlosigkeit gerade im Gott-Mensch-
Verhältnis mehr auf anderen Seiten als bei den Kirchen
sehen u. so zu diesen u. in sie geführt werden.
[Blatt 4, Seite 7]
Laß mich mit diesen paar Bemerkungen nun begnügen,
daß auch ich den Fragen u. Aufgaben, denen Du u. Dein Schwager
alle Geistesgaben zuwenden, von fernher laienhaft aufmerksam
gegenüberstehe. Ich kann dabei meine Herkunft aus dem
19. Jahrhundert nicht verleugnen, ebensowenig wie die aus
der kath[olischen] Lehre, mit der ich mich als Gymnasiast u. Student
nach der damaligen Art redlich beschäftigt habe u. der ich leider
wohl zu wenig in geistig hochstehenden Theologen in späteren
Jahren begegnet bin – immerhin genug, um auch heute
noch ihren geistigen Reichtum u. ihre Meisterschaft in der
Seelenführung hochzuschätzen.
Mein Anliegen, u. vielleicht nicht nur meines, ist
vor allem ein Christentum u. Kirchentum, das die Tore
für alle offen hält, die im Anschluß an Christus den Glauben an
Gott u. die von ihm den Menschen gegebene Sendung wach-
halten u. für den u. die Menschen fruchtbar machen wollen
– ein Christentum, das in Gott den Schöpfer der Welt auch im modernen
Weltbild sieht u. den Schöpfer des Menschen, so wie er nun
einmal von Schöpfungs wegen sündenfähig u. individuell sündenfällig ist, und in Christus
– ohne gewaltsame Wegdeutung geschichtlicher (z. B. eschato-
[Seite 8]
logischer) Bedingtheiten seinen großen von Gott gesandten
Führer u. Lehrer erkennt – ein Christentum, das so
seine Aufgabe vor allem darin findet, die Menschen
menschlicher zu machen u. die von Gott zugelassenen u. auch Schuldlosen
auferlegten Leiden u. Greuel zu mildern, in der
Hoffnung, ihren Sinn einmal in einer jetzt schwer zu
denkenden Versöhnung mit seiner Gerechtigkeit u. Barm-
herzigkeit zu finden.
Ich sitze gerade über einem größeren, ganz abseits
solcher Dinge gelegenen jur[istischen] u. wirtsch[aftlichen] Gutachten für einen Freund.
Darum habe ich nur knapp u. ohne rechten Zusammenhang
diese Bemerkungen zusammengeschrieben. Laß mich hoffen,
daß die Zukunft uns Gelegenheit geben wird, solche Dinge
mündlich zu erörtern, Dir weiter Gelegenheit u. Deinem Schwager,
für das Finden des rechten Weges Vielen Leiter u.
Verkünder zu sein u. mir Gelegenheit, in aller Stille zu hören u. zu
folgen, wie u. wo es meinem Wesen u. Gewissen entspricht.
Mit herzlichem Gruß
Dein
Ed. Hamm
[Übertragung: Christine und Dr. Wolfang Beßner, Markus Gerstmeier]
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Datierung oder Erscheinungsjahr
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1944-05-16
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Schriftart
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handschriftlich (blaue Tinte), von Eduard Hamm
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Sprache
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deu/ger; lat
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Beschriftung
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passim
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Umfang
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4 Bl.; 8 S.
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Schlagworte
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Walther von Loewenichs (1903–1992) Vater Clemens von Loewenich (1860–1936) amtierte, wie der Schwiegervater Eduard Hamms, als Senatspräsident am Oberlandesgericht Nürberg. Nach seinem Studium der Philosophie und Evangelischen Theologie an den Universität Erlangen, Tübingen, Göttingen und Münster habilitierte sich Walther von Loewenich 1931; die Berufung auf einen Lehrstuhl blieb im während der NS-Zeit verwehrt. Im Herbst 1945 richtete die Universität Erlangen ein persönliches Ordinariat für ihn ein. 1957 amtierte Walther von Loewenich als Rektor der Erlanger Universität.
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Bezug zu anderen Quellen
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Helmut Thielicke, Schuld und Schicksal. Gedanken eines Christen über das Tragische (= Stimmen aus der deutschen christlichen Studentenbewegung, H. 98), Furche-Verlag, Berlin 1936. 40 S.
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Helmut Thielicke, Jesus Christus am Scheidewege. Eine biblische Besinnung, Furche-Verlag, Berlin 1938. 131 S.
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Helmut Thielicke, Wo ist Gott? Aus einem Briefwechsel, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1940. 52 S.
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Helmut Thielicke, Von den Grenzen der Fürbitte, in: derselbe, Theologie der Anfechtung, Tübingen 1949, S. 169–179.
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Verzeichnungsrichtlinien
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