10.) Hamm als liberaler Spitzenpolitiker der Weimarer Republik (1922–1925)
Auch als Eduard Hamm in höchste politische Ämter nun der Reichsregierung der jungen Weimarer Republik gelangt, sind die Rahmenbedingungen, wie er sie bereits in seiner Zeit als Bayerischer Staatsminister zu bewältigen gehabt hat, nicht einfacher und ruhiger geworden – mitnichten. Als Staatssekretär in der Reichskanzlei (November 1922 – August 1923) und anschließend als Reichswirtschaftsminister (November 1923 – Januar 1925) nimmt Hamm die Verantwortung auf sich, in vorderster Reihe mit einigen der drängendsten Probleme des Deutschen Reiches konfrontiert zu sein – der angespannten Versorgungslage, der Umstellung der kriegsbedingt eingeführten Zwangswirtschaft in eine freie Wirtschaft, der Inflation.
Die seit Beginn des Ersten Weltkriegs fortschleichende Inflation, die in der frühen Weimarer Republik politisch sogar gewollt ist, wird gerade vom Sommer 1922 an bis in den Herbst 1923 hinein zur Hyperinflation. Als ein auslösender Anlass wird der politische Mord an Reichsaußenminister Walter Rathenaus durch rechtsextreme Republikgegner (Organisation Consul) am 24. Juni 1922 gesehen: ein Ereignis, das nicht nur die Lebensgefahr zeigt, der sich Spitzenpolitiker der jungen Republik aussetzen – zumal Rathenau jüdischer Herkunft war –, sondern auch den Rücktritt Eduard Hamms als Bayerischer Staatsminister am 24. Juli 1922 zur Folge hat. Denn der Freistaat Bayern verweigert sich dem so genannten „Republikschutzgesetz“, das als Folge der Ermordung Rathenau auf Reichsebene zur Gegenwehr gegen Feinde der Demokratie erlassen worden ist.
Dies deutet ein weiteres zentrales Problemfeld an, mit dem Hamm als Reichspolitiker wird zu kämpfen haben und das ihn wegen seines bayerischen Hintergrundes besonders betreffen wird: der Konflikt des Reiches mit einzelnen Gliedstaaten – vor allem mit dem Freistaat Bayern, aber auch etwa mit den Freistaaten Sachsen und Thüringen. Das in der Weimarer Verfassung – nach Vorbild des Heiligen Römischen Reiches – vorgesehene Mittel der „Reichsexekution“, also das militärische Vorgehen des Reiches in bzw. gegen deutsche Länder, ist zuerst bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik 1919 angewendet worden, damals auf Bitten der nach Bamberg geflohenen legalen Bayerischen Staatsregierung, welcher zu der Zeit auch Hamm diente. In der Phase zwischen dem Ende seiner Tätigkeit als Staatssekretär in der Reichskanzlei und dem Dienstantritt als Reichswirtschaftsminister (30. November 1923) – Hamm ist Reichstagsabgeordneter – wird per Notverordnung des Reichspräsidenten Ebert eine Reichsexekution gegen die Länder Sachsen (29. Oktober 1923) und Thüringen (7. November 1923) durchgeführt, die Landesregierungen – in beiden Fällen eine Koalition aus SPD und KPD – werden abgesetzt. Die Reichswehr, für die in der Exekutive als Reichswehrminister Hamms enger Freund Otto Geßler zuständig ist, rückt in beide Länder ein. Einen Tag nach der Reichsexekution Thüringens findet in München der Putschversuch Adolf Hitlers statt (8./9. November 1923), den die Bayerische Landespolizei an der Feldherrnhalle niederschlägt – ein Ereignis, in dessen Zustandekommen und Ablauf auch Eduard Hamms vormaliger Kabinettschef, Gustav Ritter von Kahr, verwickelt ist.
Nicht nur innenpolitisch, sondern auch im Rahmen der internationalen Beziehungen ist Eduard Hamms Zeit als Mitverantwortlicher in der Reichsregierung von schweren Krisen geprägt. Im Kontext der aus dem Versailler Vertrag hervorgehenden alliierten Reparationsforderungen gegenüber dem Deutschen Reich kommt es im Januar 1923 zu einer Eskalation. Die französische Regierung besteht auf einer kompromisslosen Erfüllung der Reparationsleistungen durch Deutschland. Sie lässt, gemeinsam mit belgischen Truppen, von bis zu 100.000 Soldaten das Ruhrgebiet besetzen, nachdem bereits 1921 die im eigentlich entmilitarisierten Rheinland gelegenen Städte Düsseldorf und Duisburg okkupiert worden sind. Aus dem Ruhrgebiet wollen sich Franzosen und Belgier für ausbleibende deutsche Reparationszahlungen Kohle als Pfandleistung sichern.
Als Antwort auf diese militärische Aggression organisiert Reichskanzler Wilhelm Cuno von Berlin aus vom 13. Januar 1923 an einen „passiven Widerstand“, etwa in Form der Verweigerung von Beamten gegenüber der Besatzungsmacht und Streiks der Werktätigen, die von der Reichsregierung finanziert werden. Maßgeblicher Organisator des „Ruhrkampfes“ ist Cunos Staatssekretär Eduard Hamm.
Die französischen und belgischen Besatzungstruppen greifen im Ruhrgebiet gegen die streikende und resistente Bevölkerung hart durch, auch strafrechtlich. Als am 31. März 1923 französisches Militär in einer Abteilung der Friedrich Krupp AG in Essen Produktionsmittel zu beschlagnahmen versucht, stellt sich die Belegschaft entgegen. Das französische Militär macht von seinen Schusswaffen Gebrauch – es kommt zum „Essener Blutsamstag“, bei dem 13 Arbeiter der Fa. Krupp getötet werden. Aufsichtsratsvorsitzender Gustav Krupp von Bohlen und Halbach wird von den Besatzern für den Vorfall verantwortlich gemacht und, mit acht Direktoren der Firma Krupp, vor ein französisches Militärgericht gestellt; dieses verurteilt den Großunternehmer zu 15 Jahren Haft und hoher Geldstrafe.
Reichskanzler Cuno schickt seinen Staatssekretär Hamm am 9. April 1923 nach Essen, damit dieser als Vertreter der Reichsregierung an den Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Arbeiter teilnimmt. Bei der Einreise in das Besatzungsgebiet wird Hamm – u. a. gemeinsam mit dem vormaligen preußischen Ministerpräsidenten und späteren Reichsminister Adam Stegerwald (1870–1945, 1945 ein Mitbegründer der CSU) – verhaftet (vgl. hierzu auch Forster 2003, S. 335). Hamm muss bis zum Abend des Folgetages in französischem Gewahrsam bleiben und wird anschließend aus dem besetzten Ruhrgebiet ausgewiesen – ein für Hamm „einschneidendes persönliches Erlebnis“ (Hardtwig, S. 114), von dem im Passauer Nachlass ein erleichterter Brief seiner Frau an den Freigelassenen zeugt.
Der „Ruhrkampf“ schadet der deutschen Wirtschaft und dem Staatshaushalt erheblich, die Hyperinflation wird auch hierdurch erst denkbar. Die Regierung Cuno wird hieran scheitern: Sie tritt nach einem Misstrauensvotum der SPD am 12. August geschlossen zurück. Erst die Nachfolgeregierung Stresemann wird den „Ruhrkampf“ beenden und die Währung durch Einführung der Rentenmark stabilisieren können.
Die Regierung Cuno würde man heute als „Expertenregierung“ bezeichnen, zeitgenössisch wird sie „Kabinett der Wirtschaft“ genannt. Es handelt sich um ein Minderheitskabinett, das von Zentrum, Deutscher Volkspartei (DVP), Deutscher Demokratischer Partei (DDP) und Bayerischer Volkspartei (BVP) getragen wird. Fünf von 14 Kabinettsmitgliedern sind allerdings parteilos, darunter der Kanzler selbst, der in der Frühphase der Weimarer Republik nur kurzzeitig der DVP angehört hat. Der Jurist Wilhelm Cuno (1876–1933) hält zum Zeitpunkt seiner Ernennung durch Reichspräsident Ebert eine herausragende Stellung in der deutschen Wirtschaft, er fungiert als Generaldirektor der Hapag (Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft), als unmittelbarer Nachfolger von Albert Ballin (1857–1919), der die Hapag während der Kaiserzeit zur weltweit größten Schifffahrtsgesellschaft ausgebaut hatte.
Die beiden Kabinette Marx I und II, in denen Eduard Hamm als Reichswirtschaftsminister dient und die insgesamt lediglich 13 Monate amtieren werden, sind wiederum Minderheitsregierungen unter Beteiligung von Zentrum, DVP, DDP und BVP sowie je zwei parteilosen Ministern.
Eduard Hamm ist als Mitglied in der Spitze der Exekutive des Deutschen Reiches allerdings keineswegs nur als Funktionsträger einer „Expertenregierung“ einzuschätzen. Seiner ökonomischen und juristischen Sachkenntnis ist, wie bei seinen Ministerämtern im Freistaat Bayern, auch auf der Reichsebene zugleich sein aufrechtes, engagiertes Eintreten für die junge Demokratie und Republik an die Seite zu stellen. Dies belegen immer wieder Hamms Reden im Reichstag, dem er während der ersten Wahlperiode von Juni 1920 bis Mai 1924 angehört.
1924 finden, nach den Turbulenzen der Jahre 1922/23, sowohl die zweite und als auch die dritte reguläre Reichstagswahl statt, im Mai und im Dezember. Eduard Hamm verfehlt im Mai den Wiedereinzug in den Reichstag. DVP, DDP und BVP als Parteien der „Mitte“ gehören zu den Wahlverlierern, während der extrem rechte und linke Rand jeweils erhebliche Zugewinne verzeichnet. Die NSDAP erzielt aus dem Stand 6,6 %, die DNVP 19,5 % (+ 5,1 %), die KPD 12,9 % (+ 10,9 %).