2.) Bildungsweg: Schullaufbahn und Studium

Weil sein Vater von Passau nach Deggendorf versetzt wird, besucht Eduard Hamm dort von 1885 bis 1888 die Werktagsschule, bevor er 1888 an die Studienanstalt der Abtei Metten vor den Toren der Stadt wechselt. Als Familie Hamm 1891 dienstbedingt nach Augsburg umzieht, wechselt Eduard Hamm an das Kgl. Humanistische Gymnasium bei der dortigen Abtei St. Stephan. Mithin ist der aus liberaler Familie stammende Hamm Schüler zweier renommierter Gymnasien in der Trägerschaft konservativer Benediktinerklöster. Dort erhält er freilich eine exzellente (neu-)humanistische Ausbildung und Bildung. Primär für diesen Zweck hat König Ludwig I. kurz nach seiner Thronbesteigung erstmals seit der Säkularisation von 1802/03 in seinem Königreich Benediktinerabteien wieder- oder neu errichtet – die Abtei St. Stephan in Augsburg war als Neugründung 1827/35 deren erste. Kloster Metten, im Jahr 761 zur Christianisierung des Bayerischen Waldes gegründet, war 1830 die erste wiedererrichtete Abtei, von wo aus anschließend mehrere weitere wieder- oder neugegründete bayerische Benediktinerklöster erstbesiedelt würden, etwa auch St. Bonifaz in München (neugegründet 1850), wo am 21. August 1946 ein Requiem für Eduard Hamm gefeiert werden wird.

 

Angesichts der bis zur demokratisch motivierten bundesrepublikanischen Bildungsoffensive der 1960er-Jahre überaus geringen Zahl von Gymnasien in Deutschland – zumal in ländlichen Regionen – wohnt deren Besuch und dem Abitur damals schon an sich ein elitäres, „geistesaristokratisches“ Moment inne. Die klassische (neu-)humanistische Bildung mit deutlichem Schwerpunkt auf den Fächern Deutsch, Latein und Griechisch und schließlich Geschichte sowie der Vermittlung (neu-)humanistischer Grundtugenden wie Leistung, Gerechtigkeit, Mäßigung, Stil in Worten und Taten, Verantwortung und Humanität wird auch Eduard Hamms späteren „Eigen-Sinn“ als Bildungsbürger, Beamter und Politiker wesentlich mitprägen.

 

 

 

Der Schüler Eduard Hamm verinnerlicht diesen Geist so sehr, dass er 1898 in Augsburg ein – mit Ausnahme der Fächer Mathematik und Physik, die er ,nur‘ mit Note „gut“, und Turnen, das er „genügend“ abschließt  herausragendes „Gymnasial-Absolutorium“ in Händen halten kann und für die Prüfung zur Aufnahme in die Kgl. Stiftung Maximilianeum in München vorgeschlagen wird, die er schließlich ebenfalls besteht. Mit dem Eintritt in diese von König Maximilian II. 1852 gegründete Studienstiftung gehört Hamm zur auserwählten Spitzengruppe der mindestens ebenso sehr meritokratisch wie aristokratisch strukturierten Elitenreproduktion im Königreich. In dieser Peer Group knüpfen sich auch im Falle Hamms Netzwerke, die noch über Jahrzehnte fortwirken – zumal tatsächlich auch die meisten „Maximer“ später, ganz im Sinne der Absicht des Stifters, in den Justiz- und Verwaltungsdienst des Staates eintreten, sofern sie nicht eine wissenschaftliche Karriere einschlagen, wie z. B. der Physiker und spätere Physiknobelpreisträger (1933) Werner Heisenberg (1901–1976).

 

 

Zeitgleich mit Hamm werden u. a. die späteren Juristen Franz Gürtner und Theodor von der Pfordten sowie die angehenden Historiker Karl Alexander von Müller und Ludwig Steinberger im Maximilianeum gefördert. Gürtner, von der Pfordten und von Müller werden später exemplifizieren, dass elitäre Bildung – auch (neu-)humanistische Bildung – vor Verstrickung in totalitäre Regime keineswegs automatisch feit: Theodor von der Pfordten (1873–1923) wird als Oberstlandesgerichtsrat ein Nationalsozialist der ersten Stunde und stirbt am 9. November 1923 als NS-„Blutzeuge“ beim gescheiterten Hitlerputsch; von der Pfordten trägt einen Entwurf zur Einführung besonderer Standgerichtsbarkeit bei sich. Franz Gürtner (1881–1941) wird 1922 bayerischer Justizminister, sitzt also gut ein Jahr gemeinsam mit Eduard Hamm am bayerischen Kabinettstisch. 1932 avanciert Gürtner zum Reichsjustizminister und behält dieses Amt bis zu seinem Tod Anfang 1941. Er stellt sich als „Fachmann“ willig in den Dienst des NS-Regimes und organisiert für dieses nicht nur die Gleichschaltung der deutschen Justiz, sondern insbesondere auch die Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen, für die er in Bayern und im Reich auch in Weimarer Zeiten zuständig gewesen war. Karl Alexander von Müller wird als Geschichtsprofessor seit 1919 ein früher Förderer Hitlers, im „Dritten Reich“ dann als „Historiker für den Nationalsozialismus“ (Matthias Berg) der einflussreichste Funktionär der deutschen Geschichtsforschung. Ludwig Steinberger hingegen, den das Maximilianeum 1898 zugleich mit Hamm aufnimmt, wird in der Weimarer Zeit SPD-Mitglied – für einen Münchener Geschichtsprofessor auch nach 1918 unerhört –, wird sich dem NS-Regime widersetzen und schließlich emigrieren müssen.

 

 

Bei freier Kost und Logie im eigens für die gleichnamige Studienstiftung errichteten Prunkbau des Maximilianeums hoch über der Isar nimmt Eduard Hamm zum Wintersemester 1898/99 sein Studium an der kgl. Ludwig-Maximilians-Universität auf. Wie sein Vater und sein Onkel Anton Niederleuthner jun. entscheidet er sich für die Rechts- und Staatswissenschaften.

 

Die deutsche Universität ist um 1900 auf einem wissenschaftlichen und kulturellen Höhepunkt in dem Sinn, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Preußen aus von Wilhelm von Humboldt und anderen reformiert worden ist. Die Zahl der Hochschulen und der Anteil von Männern mit akademischer Ausbildung an der Gesamtbevölkerung ist äußerst gering, nach Schätzungen um 1 %, – eine Frau wird in Bayern erstmals 1903, im Jahr nach Eduard Hamms erstem Examen, überhaupt zum Studium zugelassen. Universitätsprofessoren genießen in Zeiten der „Ordinarienuniversität“ mit das höchste Sozialprestige. Viele von ihnen werden in Form von Büsten und Ölgemälden verewigt, werden vom König bzw. vom Prinzregenten in den Adelsstand erhoben. Auch deswegen ist die Förmlichkeit und Feierlichkeit, mit der allein schon die Immatrikulation – selbstverständlich in lateinischer Sprache – zelebriert wird, im Vergleich zur heutigen „Massenuniversität“ unvorstellbar.

 

 

Die Ludovico-Maximilianea, institutionell seit 1472 bestehend (bis 1800 in Ingolstadt, anschließend in Landshut), ist 72 Jahre zuvor, 1826, in die Landeshaupt- und Residenzstadt München verlegt und im (neu-)humanistischen Sinn reorganisiert worden. Mit etwas über 4500 Studenten ist sie damals in quantitativer Hinsicht die zweitgrößte, gilt aber auch qualitativ als die nach der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin bedeutendste Hochschule im Deutschen Reich. In der Mitte der Prinzregentenzeit (1886–1912/13) erlebt sie eine Blütephase. Die LMU ist, wie die bayerische Metropole als ganze, wegen des in der Prinzregentenzeit im Vergleich zu Preußen und anderen deutschen Ländern liberaleren, weltoffeneren Klimas ein weit über Bayern hinaus von vielen ersehnter Wirkungsort. Während Eduard Hamm an der LMU München studiert, geht dorthin 1901 der erstmals vergebene Nobelpreis für Physik – nämlich an Wilhelm Conrad Röntgen, ordentl. Professor für Physik in der Philosophischen (!) Fakultät der LMU.

 

 

Setzt man ein heutiges Jurastudium als Maßstab, so muss das Gesamtverzeichnis der vom „Kandidaten des Rechts“ Eduard Hamm besuchten Lehrveranstaltungen überraschen. Die Vielzahl der von Hamm in historischen Fächern der Philosophischen Fakultät – bis hin zur Kunstgeschichte – besuchten Vorlesungen entspricht jedoch der (neu-)humanistischen Prägung eines damaligen Universitätsstudiums unabhängig von der Fakultät. Auch die im engeren Sinne juristischen und staatswissenschaftlichen bzw. staatswirtschaftlichen Vorlesungen sind deutlich geistes- bzw. konkret: geschichtswissenschaftlicher orientiert als dies in einem Jura- oder Wirtschaftsstudium heutzutage üblich ist.

 

Auch unter den akademischen Lehrern Eduard Hamms finden sich große Namen der Wissenschaftsgeschichte. Im Hamms Abgangszeugnis finden wir etwa den Juristen und Rechtshistoriker Karl von Amira (1848–1930), Begründer der Rechtsarchäologie, oder den Historiker Sigmund Riezler (1843–1927), für den erst im Juli 1898 der noch heute bestehende Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte an der Universität München – der erste landesgeschichtliche Lehrstuhl in Deutschland – errichtet worden ist. Riezler amtierte 1898–1919 auch als Vorstand der Stiftung Maximilianeum. Die politische Ausrichtung dieser „Großordinarien“ entspricht im Wesentlichen jener Weltanschauung, wie Eduard Hamm sie aus seinem Elternhaus kennt; sie ist liberal. Der Historiker Karl Theodor von Heigel, bei dem auch Hamm hört, setzt, 1904–1915 zugleich Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der nationalliberalen, auch Bismarck-freundlichen Einstellung weiter Teile der Führungsschicht Bayerns während der Prinzregentenzeit ein historiographisches Denkmal. Wie durchaus weitgespannt das Spektrum liberaler Haltung in der Professorenschaft der Münchener Universität um 1900 ist, zeigt das Beispiel des für Eduard Hamms spätere politische Tätigkeit vielleicht wegweisendsten seiner Professoren: Lujo Brentano (1844–1931). Der Neffe ersten Grades des Dichters Clemens Brentano und der Dichterin Bettina von Arnim, Bruder des Philosophen Franz Brentano, besuchte – wie Hamm – das Gymnasium bei St. Stephan in Augsburg, studierte Rechtswissenschaften und wurde, nach der Habilitation in Staatswissenschaften an der Universität Berlin und Stationen in Breslau, Straßburg und Wien 1891 an die LMU berufen, der er 1901/02 auch als Rektor vorsteht. Nach dem Weltkrieg wird er unter der revolutionären Staatsregierung Eisner im Dezember 1918 kurzzeitig als „Volkskommissar für Handel und Industrie“ agieren. Als „linksliberaler“ Nationalökonom prägt Lujo Brentano die spätere „soziale Marktwirtschaft“ vor. Sein bekanntester Schüler in München ist der junge Theodor Heuss (1884–1963), der 1905 bei Brentano promoviert.

 

 

Dass Eduard Hamm zu Beginn der 1920er-Jahre als DDP-Politiker gemeinsam mit Heuss und einem Neffen seines Förderers und akademischen Lehrers Sigmund von Riezler, dem Wirtschaftshistoriker und Diplomaten Kurt Riezler (1882–1955), das linksliberale Periodikum „Die deutsche Nation“ herausgeben wird, ist ein Beispiel für die nachhaltigen Kontakte und Netzwerke, die Hamm während seines Studiums knüpft. Dies vollzieht sich in einem Umfeld von Männern, die, in der Zahl überschaubar, zumal bei gleichem Studienfach, oft ähnliche Karrierewege durchlaufen.

 

Wichtige Orte solcher Vernetzungen sind, nicht nur damals, auch studentische Korporationen. Der Akademische Gesangverein (AGV) München, in den Hamm aufgenommen wird – und dem bereits sein Vater und sein Onkel Anton Niederleuthner jun. angehört haben –, unterscheidet sich von den meisten anderen Arten von Korporationen wie Burschenschaften, Corps und konfessionellen Verbindungen. Der AGV ist, 1861 gegründet, nichtschlagend, nicht-farbentragend, überkonfessionell, liberal. Der 1914/15 fertiggestellte, geradezu palastartige Neubau des Verbindungshauses des AGV, die so genannte „Scholastika“ inmitten der Münchner Altstadt etwa auf halbem Weg vom Hofbräuhaus zum Marienplatz, symbolisiert freilich die herausgehobene gesellschaftliche und ökonomische Stellung der „Philister“ des AGV zur damaligen Zeit, zu denen u. a. Max Planck (1858–1947), Physiknobelpreisträger des Jahres 1918, gehört. Zahlreiche Männer – und seine spätere Ehefrau –, die für Eduard Hamms Leben und Wirken langfristig eine bedeutende Rolle spielen würden, lernt er im AGV München kennen: beispielsweise Gustav Ritter von Kahr (1862–1934), der noch zu Königs Zeiten Hamms Vorgesetzter im Münchner Innenministerium wird und in dessen Kabinett Hamm im jungen Freistaat als Staatsminister dienen wird. Auch Otto Geßler (1875–1955), 1920–1928 Reichswehrminister, mit dem Hamm immer wieder eng und freundschaftlich zusammenarbeiten wird – im bayerischen Staats- und Verwaltungsdienst, als Kommunalfunktionär, in der bayerischen DDP, die Geßler 1918 mitbegründet, im Reichskabinett, schließlich im Rahmen des „Sperr-Kreises“ im gemeinsamen Widerstand gegen das NS-Regime – hat Hamm vermutlich (vgl. Limbach 2019, S. 72) das erste Mal im AGV München getroffen, denn Geßler gehörte der Erlanger Ausgründung des AGV an.