14.) Natur und Umwelt als Quellen der Resistenz. Eduard Hamm in Reit im Winkl (1932/36–1944)

Schon von familiärer Vorprägung her und in früher Kindheit ist Eduard Hamm an eine bildungsbürgerliche Rezeption von Natur und Umwelt herangeführt worden. Dies belegt etwa das „Kinderbuch“ des noch nicht achtjährigen Eduard über die „Vakanzreise“ mit seinen Eltern und seinem Bruder Gottfried im Sommer 1887 durch den Bayerischen Wald bis nach Passau eindrucksvoll (es liegt digitalisiert auf http://www.eduard-hamm.de, eingesehen 2024-08-28, vor). Nicht nur die landschaftliche Umgebung seiner Geburtsstadt  vor allem der Bayerwald, aus dem ein Teil der Familie väterlicherseits stammt  legen Hamm die Affinität zur Natur quasi in die Wiege. Eduard Hamms Onkel Anton Niederleuthner jun. gibt auch dessen Naturliebe eine nachhaltig spezifische Prägung: Niederleuthner engagiert sich maßgeblich bei der touristischen Erschließung Passaus und des Bayerischen Waldes, ist Mitbegründer und erster Vorsitzender des Bayerischen Waldvereins. Eduard Hamm wird später auch in dieser Hinsicht in die Fußstapfen seines Onkels treten. In der Weimarer Republik wird er die Präsidentschaft des Bundes deutscher Verkehrsverbände übernehmen, eines Spitzenverbandes der Tourismusbranche, und Reichskanzler Brüning wird Hamm zum „Beauftragten der Reichsregierung für den Fremdenverkehr“ ernennen.

 

Als Student tritt Eduard Hamm 1901 der „Section München“ des „Deutschen und Österreichischen Alpenvereins“ bei. Dieser Verband ist zehn Jahre vor Hamms Geburt als „Bildungsbürgerlicher Bergsteigerverein“ gegründet worden. Später wird Hamm außerdem Mitglied im 1913 gegründeten „Bund Naturschutz in Bayern“; dessen erster Vorsitzender, Carl Freiherr von Tubeuf (1862–1941), ist seit 1902 – dem Jahr von Hamms Studienabschluss – Lehrstuhlinhaber für Anatomie, Physiologie und Pathologie der Pflanzen an der Universität München.

 

Auch in der Lindauer Zeit (1908/09) spielt die Nähe der Stadt im Bodensee zu den Allgäuer und Schweizer Alpen und zum Bregenzerwald eine Rolle, auch wenn Hamm in seiner Antrittsrede vor dem Magistrat pflichtbewusst betont: „…ich beginne den Gemeindedienst in Lindau. Ich wüßte nicht viele Städte in unserem engeren Vaterlande, wo man der Gemeindeverwaltung mit solcher Freude dienen kann, als in Lindau. Ich spreche nicht von den landschaftlichen Reizen, nicht davon, daß hier Berg und Tal und Fels und See, Land und Stadt, Natur und Kunst sich vereinigen, den schönsten Lebensgenuß zu bieten, denn meine Herren, ich komme nicht, um zu genießen, sondern um der Arbeit willen hierher.“ Seine Affinität zu Natur und Umwelt hat Eduard Hamm mit diesen Worten freilich trotzdem in hohen Tönen gefeiert.

 

Der Alpenraum ist stets auch das bevorzugte Reise- und Ausflugsziel des Ehepaars Hamm und seiner Kinder. Mit diesen „ging es […] gerne ins Isartal oder auf den Peissenberg, […] zum Chiemsee, nach Hohenauschau […] bis zu größeren Wanderungen im Kaisergebirge“ (Hardtwig 2018, S. 393) oder, wie eine Fotografie des älteren Ehepaars Hamm zeigt, nach Tirol ins Gschnitztal. Weiter entfernte alpine Reiseziele sind, zur Kur, Bad Gastein, oder – auch gemeinsam mit dem befreundeten Ehepaar Geßler (DDP-Reichswehrminister) – die Schweiz, bis in deren italienischsprachigen Teil nach Lugano.

 

Einen besonderen alpinen Bezugsort für die Hamms bilden in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren außerdem Garmisch und Partenkirchen, wo Eduard Hamms Schwager Karl von Merz als Bezirksamtmann tätig ist. Hamm und v. Merz sind noch vor der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten maßgeblich an der erfolgreichen Einwerbung der Olympischen Winterspiele 1936 nach Garmisch-Partenkirchen beteiligt.

 

 

In der Endphase der Weimarer Republik, vielleicht schon ahnend, dass er alsbald einen Rückzugsort benötigen würde, erwirbt Eduard Hamm im Gebirgsort Reit im Winkl in den Chiemgauer Alpen einen großen Bauernhof in unmittelbarer Nähe zur österreichischen Grenze. Dessen Bewirtschaftung verpachtet Hamm an eine „kinderreiche Bauernfamilie, die eine Hälfte des Hauses bewohn[t].“ In Reit im Winkl hält sich Hamm seit dem Umzug von Berlin nach München 1936 immer häufiger, dann „mit seiner Familie seit 1943 vorrangig auf“; dort wird er am 2. September 1944 von der Gestapo verhaftet. Der Reichswirtschaftsminister a. D. genießt in der agrarisch geprägten Dorfgemeinschaft von Reit im Winkl hohes Ansehen und engagiert sich aktiv für die touristische Erschließung des Ortes. Im Januar 1933 veranstaltet Hamm im „Oberwirt“ eine Tagung der bayerischen Fremdenverkehrsverbände. Während des Zweiten Weltkrieges kann Hamm durch seine Kontakte in die deutsche Wirtschaft den örtlichen Bauern helfen (vgl. Hardtwig, S. 399).

 

Eduard Hamm, von Natur aus schmächtig und von geringer Körpergröße – „die kleine Exzellenz“, wie ihn seine Bundesbrüder im Akademischen Gesangverein München bereits zu Studienzeiten genannt haben –, nutzt während der NS-Diktatur die Aufenthalte in Reit im Winkl, um sich durch ausgedehnte Fußmärsche und bis zu 16 Stunden langen Wanderungen im Gebirge körperlich auf eine möglicherweise drohende Inhaftierung durch das NS-Regime vorzubereiten. „Er hat gewusst, was ihn in einem Konzentrationslager erwarten würde“, wird Hamms jüngere Tochter Fride später sagen (zitiert nach Ostermaier 2009).

 

Dem „Hof in den Bergen“, der, eingebettet in die dörfliche und alpine Umwelt Reit im Winkls, für die Familie Hamm-Hardtwig gerade in den unmittelbaren Nachkriegsjahren – München ist noch weitgehend zerstört – der Hauptwohnsitz sein wird, hat der 1944 geborene Historiker Wolfgang Hardtwig, Enkelsohn Eduard Hamms, 2022 ein von der Kritik gefeiertes historiographisch-literarisches Denkmal gesetzt (Wolfgang Hardtwig, Der Hof in den Bergen. Eine Kindheit und Jugend nach 1945, 3. Aufl., Berlin 2023).