9.) Vom hohen Beamten zum Spitzenpolitiker im jungen Freistaat Bayern (1919–1922)

Was geschieht nach dem verlorenen Weltkrieg, nach dem Ende der Monarchie, in den revolutionären Unruhen und den staatlichen und gesellschaftlichen Reaktionen auf diese mit Legationsrat im Staatsministerium des Äußern Eduard Hamm, der innerhalb der alten aristokratischen Ordnung in höchste Positionen gelangt ist, dem bereits vor seinem 40. Geburtstag die Anrede „Hochwohlgeboren“ zusteht? Wie verhält sich der meritokratisch sozialisierte Maximilianeer gegenüber den neuen Machtverhältnissen der aus der Revolution geborenen Republik und der bald verfassungsmäßig festgeschriebenen Demokratie?

 

 

Ein Teilaspekt der „wunderlichste[n] aller Revolutionen“, wie der Historiker und linke Politiker Arthur Rosenberg (1889–1943) die in Deutschland 1918/19 geschehenen Umwälzungen genannt hat (Rosenberg 1961, S. 224), ist der Umstand, dass es trotz des Endes der Monarchie in weiten Teilen der Gesellschaft eine Kontinuität der Eliten gibt, zumal der Funktionseliten. Im Freistaat Bayern bleibt die in der Monarchie herangebildete Beamtenelite, auch in den obersten Behörden, im Wesentlichen in Amt und Würden. So dient auch Eduard Hamm der Revolutionsregierung Kurt Eisners, und dies sogar in dessen eigenem Haus, denn der Bayerische Ministerpräsident leitet traditionsgemäß auch das Staatsministerium des Äußern. Allerdings setzt es die Beamtenschaft der Münchener Ministerien in der Revolution durch – unter maßgeblicher Beteiligung Eduard Hamms –, dass sie sich nicht auf die revolutionäre Regierung vereidigen lassen muss (vgl. Hardtwig 2018, S. 61).

 

Am 7. April 1919 reißt eine Gruppe von Kommunisten in München die Macht an sich. Vor dieser „Münchner Räterepublik“ weichen der Landtag, die nunmehr parlamentarisch legitimierte Staatsregierung und mit ihr Legationsrat Hamm nach Bamberg aus. Die von (Mehrheits-)Sozialdemokraten, Unabhängiger Sozialdemokratischer Partei (USPD) und Bayerischem Bauernbund (BB) getragene Staatsregierung unter der Leitung des (M)SPD-Politikers Johannes Hoffmann – auch dieser ist zugleich Staatsminister des Äußern – ist erst am 17. März vom Landtag gewählt worden. Staatsregierung und Landtag werden auf dem Bamberger Domberg verbleiben, bis Mitte August 1919 die neue Verfassung des Freistaates Bayern steht und verabschiedet wird. Zu diesem Zeitpunkt ist der 39-jährige Eduard Hamm bereits in die am 31. Mai 1919 gebildete Regierung Hoffmann II eingetreten, welcher neben Ministern der SPD nun auch solche der Bayerischen Volkspartei (BVP) und der Deutscher Demokratischen Partei (DDP) angehören – letztere hat ihr Parteimitglied Hamm in das Kabinett entsendet. Dessen Eintritt in den Bayerischen Ministerrat findet also noch in demjenigen Monat statt, an dessen Beginn (2. Mai) im Auftrag der Staatsregierung Hoffmann I die Landeshauptstadt München durch bayerische Freikorps sowie preußische und württembergische Reichswehrverbände von der „Räterepublik“ befreit worden ist.

 

 

Das Kabinett Hoffmann II wird Mitte März 1920 nach dem Kapp-Putsch zurücktreten müssen. Die prägenden Akteure in den vier folgenden Bayerischen Ministerräten – nämlich die Kabinette Ritter von Kahr I (bis Juli 1920), Ritter von Kahr II (Juli 1920 – September 1921), Graf von Lerchenfeld-Köfering (September 1921 – November 1922) und Ritter von Knilling (November 1922 – Juli 1924) – werden in der Forschung auch als „Beamtenpolitiker“ bezeichnet . (Auch dass alle drei genannten Ministerpräsidenten adliger Herkunft sind oder im Königreich nobilitiert worden sind verdeutlicht die Kontinuität der Eliten über 1918/19 hinweg.) Parteipolitisch werden diese Regierungen von der BVP, dem BB und der DDP getragen, außer Kahr I auch von der Bayerischen Mittelpartei (BMP), die konservativ-nationalliberal ausgerichtet ist, das Bildungsbürgertum und eben die Beamtenschaft repräsentiert. Die Ministerpräsidenten Gustav Ritter von Kahr und Eugen Ritter von Knilling sind hingegen parteilos. Sie werden in der neueren und neuesten Forschung „Beamtenministerpräsidenten“ genannt (Hinterberger 2017), weil ihre Sozialisationen und Karrieren in der meritokratischen Hierarchie der Königlichen Ministerien ihr vorprägendstes Merkmal bei der Übernahme höchster Staatsämter im jungen Freistaat sind. Ihre Laufbahnen ebenso wie diejenige zahlreicher ihrer Minister sind vor 1918 in mehr oder weniger ähnlicher Form verlaufen wie der Werdegang Eduard Hamms: Humanistisches Gymnasium, Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, Mitgliedschaft in liberalen Korporationen bzw. in königlicher Geistesaristokratie – von Kahr ist Philister des AGV München, von Knilling ist, wie Hamm und Graf Lerchenfelds Justizminister Franz Gürtner, Stipendiat der Stiftung Maximilianeum gewesen – und strebsamer Aufstieg im Kgl. Bayerischen Staats- und Verwaltungsdienst.

 

Eduard Hamm gehört dieser quantitativ überschaubaren, untereinander bestens vernetzten Peer Group nicht nur an; als Maximer rangiert er in deren geistesaristokratischem Spitzenfeld. Charakteristisch für den Eigensinn Hamms ist nun in der politischen Umbruchssitution 1918 ff., dass er die neuen, durch den verlorenen Weltkrieg und die Revolution geschaffenen Verhältnisse, also den Untergang der Monarchie und des verfassungsmäßig verbrieften Adels, hinnimmt. Von Beginn an befürwortet und unterstützt Eduard Hamm die Republik und die parteipolitisch organisierte parlamentarische Demokratie. Was für ein Gegensatz etwa zum Kgl. Bayerischen Spitzenbeamten Gustav Ritter von Kahr, der im jungen Freistaat Bayern zeitweilig als parteiloser Ministerpräsident amtieren wird, sich als solcher aber nicht nur weigert, den Eid auf die neue demokratische Verfassung Bayerns zu leisten, sondern es – mehr noch – ablehnt, diese überhaupt zu lesen. Hamm dagegen tritt der (links-)liberalen DDP bei und zieht für diese 1920 in den Bayerischen Landtag und in den Reichstag ein.

 

 

Hamms im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen in der Ministerialmeritokratie unideologische Sicht auf den Untergang der Monarchie und auf die historische Wirklichkeit, vielleicht Notwendigkeit der revolutionär geschaffenen Republik mag mit den Themenfeldern zu tun haben, die er während des Krieges und nach Kriegsende zu bearbeiten hatte und hat. Er ist vor allem mit der Bewältigung der desaströsen Versorgungslage der Bevölkerung beschäftigt. In München und während seiner Abordnung an die Berliner Zentral-Einkaufsgesellschaft 1916 ist Hamm außerdem die Ineffizienz der kriegsbedingt eingeführten Zwangswirtschaft bewusst geworden – in diesem Erleben dürfte sein später unmissverständlicher Einsatz für die Marktwirtschaft zu sehen sein; freilich eine Marktwirtschaft mit sozialem Antlitz, wobei Hamm aber gleichzeitig definitiv gegen die „Sozialisierung“ von Unternehmen eintritt, wie Kurt Eisner sie anstrebt. Die Revolutionsregierung beauftragt mit ihren Plänen zur „Sozialisierung“ niemand geringeren als den vormaligen akademischen Lehrer Hamms an der LMU München, den Professor für Nationalökonomie Lujo Brentano.

 

Hamms Eigensinn und Resistenz innerhalb der zeitgenössischen Münchener Beamtenelite, die der Republik überwiegend skeptisch über ablehnend bis offen feindlich entgegensteht, wird auch bei seiner Ernennung zum Bayerischen Staatsminister für Handel, Industrie und Gewerbe deutlich. In den Bayerischen Staatsministerien erregt seine in Bamberg vollzogene Bestallung „einige Unruhe“ (Hardtwig 2018, S. 61), weil der 39-jährige Hamm zu diesem Zeitpunkt ,nur‘ Legationsrat ist und es dem Ehrenkodex der Ministerialhierarchie entsprochen hätte, wenn das erst Anfang April 1919 neu geschaffene Handelsministerium von Hamms Dienstvorgesetztem im Außenministerium, Wilhelm Ritter von Meinel (1865–1927), übernommen worden wäre. Meinel war zunächst auch als erster von der DDP gefragt worden, lehnte aber eine Parteibindung ab. Ritter von Kahr weit rechts, Lujo Brentano links – auch verglichen mit diesen beiden Bundesbrüdern Hamms im AGV München positioniert sich der DDP-Nachwuchspolitiker Eduard Hamm in der Mitte, sein politisches Handeln kennzeichnen Vernunft, Mäßigung und Pragmatismus.

 

Gerade wegen seiner hochgradig elitären Sozialisation im Königreich kann es – um ein Konzept der historischen Sozialforschung zugrunde zu legen – als Eduard Hamms Individuation bezeichnet werden, dass er den historischen Wendepunkt in dessen Wirklichkeit, auch Notwendigkeit erkennt, dass er den Willen des Volkes anerkennt, sich mit Überzeugung und Tatkraft in den Dienst des neuen Freistaats und bald auch, auf Reichsebene, der Weimarer Republik stellen wird. Integraler Teil dieser Individuation ist bei Eduard Hamm, zumal er in München die Entstehung des Nationalsozialismus und den (un)aufhaltsamen Aufstieg Hitlers von den ersten Anfängen an miterleben muss – er kann entsprechende Vorgänge in der Schellingstraße regelrecht von seiner Wohnung aus mitverfolgen –, die Gegnerschaft und Resistenz nicht nur gegen die Gefahr von links außen, die in München besonders blutig ist („Räterepublik“ 1919), sondern gerade auch gegen die Bedrohung von extremen Rechten, von den „Narren“, wie Hamm den aufstrebenden Hitler, aber auch den Ritter von Kahr Monate vor dem Hitlerputsch im November 1923 klar benennt.