3.) Referendariat, Dritter Staatsanwalt und in kommunalen Diensten der Stadt Lindau (1902–1911)
Nach Bestehen der Ersten Staatsprüfung am 17. Juli 1902 beginnt Eduard Hamm als Rechtspraktikant am Landgericht Augsburg. In dieser Stadt hat Hamm fünf Jahre zuvor das Abitur absolviert. Sein neuer Dienstort, der Justizpalast, befindet sich nur wenige Gehminuten von seinem alten Gymnasium bei St. Stephan entfernt im nördlichen Teil des Stadtzentrums. Augsburg, damals wie heute die drittgrößte Stadt Bayerns, ist zu dieser Zeit als Standort von Jurisdiktion gleichwohl wichtiger als heute, da sie seit 1879 über ein eigenes Oberlandesgericht verfügt, dessen Sprengel 1932 demjenigen des OLG München zugeschlagen werden wird.
Bei der „Zweiten Prüfung für den höheren Justiz= und Verwaltungsdienst“ im Dezember 1905 legt Eduard Hamm erneut ein Beispiel seiner Eigenschaften als „besonders kluger und unvorstellbar fleißiger Mann“ ab, wie sich der spätere Reichskanzler Hans Luther über Hamm äußern wird. Eduard Hamm belegt „unter den 232 Prüfungskandidaten des Königreichs den 1. Platz“.
Im Frühjahr 1906 (März – Mai) ist Eduard Hamm kurzzeitig Hilfsarbeiter im Kgl. Bayerischen Staatsministerium der Justiz in München, bevor er zum 1. Juni 1906 die Stelle als III. Staatsanwalt am Landgericht München II antritt. Das wichtigste Ereignis in dieser Zeit ist die Heirat mit Marie von Merz im August 1907 in Nürnberg. Beruflich empfindet Eduard Hamm indes die Tätigkeit in der Justiz als „unbefriedigend“ (Hardtwig 2018, S. 23).
So verlässt Eduard Hamm zunächst den Kgl. Bayerischen Justiz- und Verwaltungsdienst und tritt stattdessen eine Stelle als Rechtsrat des Magistrats (Rechtskundiger Magistratsrat) der Stadt Lindau im Bodensee an, der südlichsten Stadt des Deutschen Reiches. (Sonthofen wird erst 1963 zur Stadt erhoben werden). Aufschlussreich für zeitgenössisches Netzwerken ist es, dass Hamm auf die freie Stelle – so, wie Jahre zuvor auf seine spätere Frau – auf einem Verbindungsball des Akademischen Gesangvereins München aufmerksam wird. Denn der amtierende Rechtskundige Bürgermeister der Stadt Lindau (im Amt 1894–1919), Heinrich Schützinger (1857–1920), ist, wie Hamm, Philister des AGV München; auch Schützinger hat an der LMU Rechts- und Staatswissenschaften studiert.
Die vormalige freie Reichsstadt Lindau (seit 1274/75) ist seit dem Mittelalter ein bedeutender Ort des Transits und des (Fern-)Handels gewesen – nicht nur zu und mit den anderen Anrainern des Bodensees, sondern bis und von Italien. Bis 1826 hat die Handels- und Reiseverbindung des „Mailänder Boten“ bzw., aus italienischer Sicht, des „Corriere di Lindo“ bestanden, die noch Goethe genutzt hat. An diesem Ort des Austausches hat 1496/97 einer der für die deutsche Geschichte wegweisenden Reformreichstage an der Schwelle zum frühneuzeitlichen Reich stattgefunden, im Lindauer Rathaus, der neuen Dienststelle Eduard Hamms. In einer Insellage hat sich die Stadt nicht nur geographisch befunden, sondern auch kulturell, nachdem sie bereits seit Ende der 1520er-Jahre der evangelisch-lutherischen Reformation angehört hat (also ähnlich früh wie Nürnberg) – ganz im Gegensatz zu ihren entweder dezidiert römisch-katholischen oder aber evangelisch-reformierten (Schweiz) Nachbarterritorien. Gleichzeitig hat sich bis zur Säkularisation innerhalb der Mauern Lindaus ein adliges Damenstift katholischer Konfession befunden, dessen Äbtissin den weltlichen Rang einer Fürstin innehatte. In Lindau vermischten sich also seit Jahrhunderten freiheitlicher Bürgerstolz und Aristokratie – ähnlich, wie Eduard Hamm dies bereits aus Passau, Augsburg und Nürnberg kennt.
Eduard Hamm beschäftigt sich mit der reichsstädtischen Geschichte seines neuen Wirkungsortes – unter anderem im „Verein für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung“, dessen Präsident der neue Vorgesetzte Hamms, Bürgermeister Schützinger, ist. Lindaus Vergangenheit ist eine Geschichte, die keineswegs dem akademischen, auf den modernen Fürstenstaat hin orientierten Mainstream der damaligen Geschichtsforschung, wie sie Hamm an der LMU vermittelt bekommen haben wird (von Heigel, von Riezler), entspricht, sondern „ganz andere“ Traditionsstränge der deutschen Geschichte repräsentiert. Auch in seinen wohl zu Beginn der 1940er-Jahre niedergeschriebenen „Lebenserinnerungen für die Familie“ wird Hamm die aus der Vormoderne herrührende reichsstädtische Prägung Lindaus sachkundig würdigen.
Der bayerische Staat hat die Stadt Lindau zugleich mit der Königskrone zuerkannt bekommen, also am Jahreswechsel 1805/06. Es hat allerdings ein gutes halbes Jahrhundert gedauert, bis das Königreich seinen südwestlichen Vorposten am Bodensee für die Moderne ertüchtigt – dann aber mit Nachdruck. Seit 1854 ist die Stadt Lindau südlicher Endpunkt der von 1841 an errichteten „Ludwig-Süd-Nord-Bahn“ (von Hof – Bamberg – Nürnberg – Donauwörth – Augsburg), wofür man auch den Bahndamm zwischen Insel und Festland errichtet. 1853–1856 wird die Hafeneinfahrt mit dem ikonischen Paar aus neuem Leuchtturm und bayerischem (pfälzischem) Löwen neu gefasst.
Eduard Hamm übertreibt also keineswegs, wenn er später in seinen Memoiren von Lindau als „einer wenn auch kleinen doch nicht unbedeutenden Stadt“ spricht: „Denn das kleine Lindau war viel bedeutender als seine Einwohnerzahl von [rund] 6200“ (Eduard Hamm, Lebenserinnerungen, Abschnitt Lindau, S. 4 f.). Aus der Lindauer Lokal- und Kommunalpolitik, deren Teil 1908/09 auch Eduard Hamm ist, gehen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Reihe von Männern hervor, die anschließend bayern- und deutschlandweit bedeutende Rollen spielen werden. So etwa der gebürtige Lindauer Johannes von Widenmayer (1838–1893), der nach dem Abitur am St. Anna-Gymnasium in Augsburg als Stipendiat der Stiftung Maximilianeum – wie Hamm – Rechts- und Staatswissenschaften vor allem an der LMU München (1858–1863) studiert hat und von 1863–1870 als Rechtskundiger Bürgermeister der Stadt Lindau amtierte, bevor er 1870–1888 Zweiter Bürgermeister der Landeshauptstadt München und von 1888 bis zu seinem Tod 1893 deren Erster Bürgermeister ist (1890 Eingemeindung von Neuhausen, Schwabing und Bogenhausen).
Auch Otto Geßler (1875–1955), später ein enger politischer und persönlicher Weggefährte Eduard Hamms in der Reichspolitik der Weimarer Republik (DDP, Reichswehrminister 1920–1928) und in der Resistenz gegen den Nationalsozialismus, ist mit Lindau verflochten. Geßler ist im benachbarten Lindenberg im Allgäu aufgewachsen und dort bis zu seinem Tod verwurzelt und hat in Lindau die Lateinschule besucht.
Eduard Hamms unmittelbarer Amtsvorgänger als Rechtskundiger Magistratsrat der Stadt Lindau ist Ludwig Siebert (1874–1942), auch er ein Absolvent der LMU in Rechts- und Staatswissenschaften (1893–1897). Sieberts politisches Wirken wird sich allerdings später in die verglichen mit Hamm und Geßler ganz entgegengesetzte Richtung entwickeln. Die Stelle als Magistratsrat von Lindau wird für Hamm frei, weil Siebert 1908 zum Rechtskundigen Bürgermeister der Stadt Rothenburg ob der Tauber berufen worden ist; dort wird er bis 1933 bleiben, von 1919 an als Erster Bürgermeister, 1924 ff. als Oberbürgermeister. 1931 wird Siebert durch seinen Eintritt in die NSDAP der erste NS-Oberbürgermeister in Bayern sein. Das Regime wird dies bei der „Machtergreifung“ honorieren und Siebert im Frühjahr 1933 zunächst das Amt des Staatsministers der Finanzen und im April 1933 schließlich dasjenige des bayerischen Ministerpräsidenten verschaffen, das er bis zum Tod im November 1942 behalten wird.
Obwohl Eduard und Maria Hamm nicht länger als 20 Monate in Lindau verbringen, prägt diese Zeit den weiteren Lebensweg Eduard Hamms nachhaltig. Diese Einschätzung bestätigt auch Hamms nachträgliche Gewichtung des Intermezzos in der Lindauer Kommunalverwaltung. In seinen wohl zu Beginn der 1940er-Jahre verfassten „Lebenserinnerungen für die Familie“ widmet Hamm eines von fünf fertiggestellten Kapiteln allein den gut dreieinhalb Jahren in Lindau und Memmingen.
In Lindau ist Eduard Hamm erstmals beruflich mit den Themengebieten befasst, die ihn anschließend als Ministerialbeamten, Politiker und Funktionär in erster Linie beschäftigen werden – Handel, Gewerbe und Industrie. Und die Bodenseeregion verfügt zur damaligen Zeit über bemerkenswerte Industrie. Exakt in dem Jahr, das Hamm nach Lindau führt, 1908, gründet im weniger als 30 Kilometer entfernten Friedrichshafen Ferdinand Graf von Zeppelin (1838–1917) seine „Luftschiffbau Zeppelin GmbH“ mit zugehöriger Stiftung. Ebenfalls 1908 findet die „Zeppelinspende des deutschen Volkes“ statt. Das Unternehmen ist natürlich, nicht nur wirtschaftlich, eine Sensation für die Zeitgenossen und -zeugen. Begeistert berichtet Maria Hamm ihren Eltern von der neuen Technik. Eduard Hamm pflegt Kontakte zu dem Unternehmen. Ferdinand Graf von Zeppelin ist außerdem Präsident des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, in dem sich Hamm engagiert.
Zugleich ist Magistratsrat Eduard Hamm im Lindauer Rathaus für die örtliche Polizei zuständig. Als Ende August 1909 niemand geringerer als Kaiser Franz Joseph I. von Österreich die bayerische Grenzstadt besucht, zeichnet Hamm deswegen für die Sicherheit des Monarchen verantwortlich – in einer Zeit, in der reihenweise Attentate auf Angehörige royaler Familien stattfinden. Franz Josephs Gattin Elisabeth etwa, die 1862 im Hotel „Wilder Mann“ der Passauer Verwandtschaft Eduard Hamms zu Gast gewesen war, ist elf Jahre zuvor in Genf einem Attentat zum Opfer gefallen. Am Tag des Amtsantritts Eduard Hamms in Lindau, am 1. Februar 1908, sind der König und der Kronprinz von Portugal ermordet worden; die Lindauer Lokalzeitung berichtet über beide Ereignisse auf einer Seite. Eine herausfordernde Aufgabe also für den 29-jährigen Rechtsrat, wie auch Maria Hamm ihre Eltern wissen lässt: „Edi hatte ehrlich viel zu tun. Als Polizeireferent; er ist die letzte Tage nicht mehr vor 8 Uhr nach Hause gekommen. Denn man erhielt Telegramme, daß eine Anarchistin und ein Anarchist sich hier aufhalten. Da gilt es doppelt vorsichtig zu sein.“
Im März 1915 kehrt Hamm, „der als ehemaliger Lindauer Rechtsrat und hervorragender Festredner in Lindau noch heute in hohen Ehren steht und schon einmal vor einer großen Volksversammlung in Bad Schachen eine von höchster vaterländischer Begeisterung getragene Festrede gehalten hat“ – es ist Krieg – dorthin zurück, um in Anwesenheit von Prinzessin Therese von Bayern und des Bürgermeisters Schützinger einen Festvortrag über Bismarck zu halten. „Wie nicht anders zu erwarten war, entledigte sich der Vortragende seiner Aufgabe über das Thema ,Bismarck und seine Zeit‘ in ebenso tiefgründiger als meisterhafter Weise“, wie das „Lindauer Tagblatt“ am 29. März 1915 vermeldet. Der Erlös der Veranstaltung kommt, im ersten Kriegsfrühling, dem örtlichen Rotkreuz-Hilfskomitee zugute. Prinzessin Therese (1850–1925), Tochter des Prinzregenten Luitpold, deren Alterssitz unweit von Lindau liegt, hat wegen ihrer auf Selbststudium beruhenden Forschungsleistungen in der Botanik 1897, im Jahr vor Hamms Studienbeginn, als erste Frau den Doktorgrad der Philosophischen Fakultät der LMU München erhalten, nachdem sie bereits 1892 ehrenhalber in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden war.
Diesen Vortrag, in dem er einerseits den Krieg verteidigt, andererseits – und dies ist im Hinblick auf seine spätere politische „Individuation“ als linksliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitiker für die Demokratie bemerkenswert – speziell die sozialpolitischen Leistungen Bismarcks würdigt und diese gegen die „Manchester-Leute“ stellt, veröffentlicht Hamm zeitnah (Bayerische Staatszeitung, Nr. 93, 16. Mai 1915, und Nr. 94, 23. Mai 1915; vgl. hierzu auch Hardtwig 2018, S. 24 f.).
Sein Bismarck-Vortrag von 1915 zeigt, dass Eduard Hamm in Lindauer Kontexten auch erstmals öffentlich in politischer Weise tätig wird. Dies ist einerseits durch die kommunale Führungsposition bedingt, andererseits – grundlegend charakteristisch für Hamm – ergibt es sich aus der intellektuellen Beschäftigung mit Geschichte. Der Übergang von dieser zur praktischen Politik ist zeitgemäß folgerichtig.